Am gestrigen späten Abend erreichte Xenos noch sein Ziel, die Stadt Juselia. Damit hat er beinahe die Hälfte der Strecke zur Kaiserstadt hinter sich. Mit dem anstrengenden Ritt der letzten zwei Tage hat er einige Zeit wieder aufgeholt. Vor der Herberge steht sein Pferd. Man sieht ihm die Erschöpfung noch an. Im Gasthaus schläft Xenos. Die Morgensonne scheint dem Jungen ins Gesicht und lässt ihn erwachen. Am liebsten würde er heute eine Pause machen, doch dann hätten ihn die Anstrengungen der letzten Tage nicht weitergebracht. Sein heutiges Ziel ist das Dorf Ectophe.
Verschlafen steht Xenos auf und trottet ins Bad. Vor seinem Aufbruch will er die Gelegenheit noch einmal für eine Dusche nutzen. Als er aus dem Badebereich tritt, bemerkt er einen kleinen Brief auf dem kleinen Waschbecken gegenüber. Dieser lag zuvor nicht dort. Xenos wird rot.
Schnell legt er ein Handtuch um sich: „Von wem ist dieser Brief? Eine Frechheit, sich in ein Bad zu schleichen, welches offensichtlich besetzt ist.“
Er nimmt den Brief, öffnet ihn und beginnt zu lesen: „Guten Morgen Xenos. Es wird Zeit. Ich möchte dich treffen und muss dir einiges erzählen. Wir werden uns auf dem Weg nach Ectophe begegnen. Achte darauf, dass dir niemand folgt. Ich erwarte dich. Der Prophet. … Und vergiss nicht, dich hinter den Ohren zu waschen!“
Diese Worte lassen den Jungen sauer aufstoßen. Leicht beschämt verlässt er das Bad und zieht sich an. Jetzt soll es an der Zeit sein. Was ist heute anders als an den Tagen zuvor? Vermeintlich hat er dem Jungen geholfen, doch kann man ihm wirklich trauen? Xenos packt seine Sachen und verlässt die Herberge. Sein Pferd an den Zügeln hinter sich herziehend, verlässt er die Stadt.
Kurz vor dem Stadttor wird er jedoch noch einmal aufgehalten.
„Hey Junge!“, spricht ihn jemand an.
Xenos dreht sich um. Ein lumpiger Dunkelelf steht neben seinem Pferd und hält die Hände auf.
„Ihr seht aus, als hättet Ihr ein wenig Geld für einen alten, armen Mann wie mich.“
Xenos schaut an sich herab. Sonderlich wohlhabend, so findet er, sieht er nicht aus.
„Bitte, junger Herr. Nur eine Münze“, fleht ihn der Bettler an.
Xenos dreht sich um und geht. Er muss sein Geld zusammenhalten. Für die Reise wird es kaum noch reichen. Er hat bereits viel zu viel ausgegeben. Außerdem ist dieser Bettler keineswegs so hilflos wie er sich ausgibt.
Der groß gewachsene Dunkelelf rennt ihm nach und stellt sich vor den Jungen: „So habt doch Mitleid. Ich habe solchen Hunger.“
Der Elf ist mehr als aufdringlich. Der Junge macht einen Schritt beiseite und will seinen Weg fortsetzen.
Wieder stellt sich der Dunkelelf vor ihn: „Bitte! Ich bitte Euch nur um eine lächerliche kleine Münze.“
Nun reicht es Xenos, er wird wütend: „Geht mir aus den Augen, elender Betrüger. Ich habe keine Zeit für Euch und Eure Spielchen. Denkt Ihr wirklich, mir sind die Männer hinter der Ecke dort vorn und in der Gasse hinter mir noch nicht aufgefallen?“
Der Dunkelelf schaut verwirrt.
„Ihr dachtet, einem kleinen Kind wie mir könnte man das Geld leicht aus den Taschen ziehen, nicht wahr?“
Der Dunkelelf verzieht seine Miene und wird zornig: „Du dummes kleines Kind, du hälst dich für etwas ganz Besonderes. Doch sei dir sicher, das bist du nicht. Zu den finsteren Dämonen mit dir!“
Xenos zieht an ihm vorbei und lacht: „Da komme ich doch erst her.“
„Krankes Kind“, beschimpft ihn der Mann und verschwindet in der nächsten Gasse.
Vor dem Tor setzt Xenos sich auf sein Pferd und reitet los. Gegen Mittag legt der Junge seine erste Rast ein. Hungrig packt er seinen Proviant aus und beginnt zu essen. Er hat sich an einem kleinen Stand gegenüber seiner Unterkunft eine kleine Box packen lassen.
Während des Essens macht er sich Gedanken über den Propheten. Wer ist er überhaupt? Woher kennt er Xenos? Und was wird er ihm erzählen? Irgendwo auf dem Weg nach Ectophe will der Prophet ihn treffen. Wird der Junge ihn erkennen? Warum wollte er sich unbedingt so weit abseits treffen? Vielleicht sind seine Absichten doch nicht grundlegend gut. Xenos beschließt vorsichtig zu sein. Er ist sich nicht ganz sicher, ob er dem Fremden wirklich trauen sollte. Wenn er sich doch als Feind herausstellt, wird Xenos ihm seine Seele rauben, wie dem Mann der Wache aus Buna. Er kennt immerhin Xenos‘ finsteres Geheimnis der Nekromantie.
Plötzlich vernimmt der Junge ein Rascheln hinter sich. Irgendwas ist dort im Gebüsch. Ein kalter Windstoß fegt durch den Wald und bringt die Baumkronen zum Wippen. Dann prescht etwas aus dem Gebüsch hervor und zieht an Xenos vorüber. Es ist ein Reh. So schnell wie es kam, ist es auch wieder fort. Der Junge hat sich erschreckt. Doch nun lässt seine Anspannung wieder nach. Er schließt kurz die Augen und atmet aus. Als er sie wieder öffnet, steht plötzlich eine Gestalt in einer Kutte vor ihm. Er hat weder etwas gehört noch gespürt.
Blitzschnell springt er aug: „Spiritus Dagger!“
Sein magischer Dolch manifestiert sich in seiner Hand. Er hält ihn auf die vermummte Gestalt gerichtet.
„Das ist aber keine sonderlich freundliche Begrüßung“, erhebt sie ihre raue, sanfte Stimme. „Tut mir leid, sollte ich dich erschreckt haben.“
Xenos kommt diese Stimme bekannt vor und doch wirkt sie fremd. Der Junge löst den Dolch auf und springt mit einer Rolle zur Seite weg, um einen größeren Abstand zum Unbekannten aufzubauen.
„Seid Ihr der Prophet?“, fragt der Nekromant.
„Ja, der bin ich“, erwidert die Gestalt. „Du hast eine gesunde Vorsicht, sobald du dein Gegenüber bemerkst. Aber mir kannst du vertrauen. Ich habe dir einiges zu erzählen, Xenos.“
Der Prophet schiebt seine Kapuze ein Stück zurück. Das Gesicht eines älteren Mannes mit grauen Haaren offenbart sich. Sein leichtes Lächeln wirft seine Haut in Falten.
Nun steigt in Xenos die Neugier: „Was wollt Ihr mir mitteilen?“
„Du hast dich vor kurzem aufgemacht, um Ayame wiederzufinden. Die weite Welt wartet auf dich. Doch nicht nur die Welt Atra-Regnum. Auch eine andere Welt wartet auf dich.“
„Wovon redet Ihr?“, fragt Xenos verwundert und beginnt seine Sachen wieder zusammenzupacken.
„Du hast sogar schon Bekanntschaft mit dieser zweiten, den meisten Lebenden größtenteils unbekannten und als grausam beschriebenen Welt gemacht.“
„Ihr redet vom Reich der Toten“, beginnt Xenos zu verstehen.
Währenddessen hat er sein Pferd losgemacht. Die beiden beginnen weiter Richtung Ectophe zu laufen.
„Richtig“, nickt der Prophet. „Ich rede vom Reich der Toten, vom Abyss, von einer Welt neben unserer, die uns zu Lebzeiten normalerweise verwehrt bleibt. Nur wenige können sie betreten. Umgekehrt sollte es ebenso sein, wie du sicher weißt. Den dort hausenden Kreaturen ist es ebenfalls verwehrt, unsere Welt zu betreten. Dennoch ist für sie der Weg einfacher. Und immer mehr von ihnen missachten das alte Gebot.“
Xenos wird hellhörig: „Ihr meint die Kreaturen, die in Buna aufgetaucht sind.“
„Genau davon spreche ich“, löst der alte Mann auf. „Doch das ist nicht alles. Du hast ihre Welt ebenfalls bereits besucht.“
„Davon weiß ich nichts.“
„Als du unter dem Baum auf Hof Almoran eingeschlafen bist, hat ein Teil deines Bewusstseins deinen Körper verlassen und den Vorhof des Abyss´ betreten. Im Traum ist die Barriere zwischen unserer und der Dimension der Toten am kleinsten. So können Menschen die fremde Welt betreten. Sie können diese Fähigkeiten erlernen oder auch von ihren Eltern erben. Bei manchen geschieht es versehentlich. Sie wissen gar nicht, was mit ihnen geschieht. So scheint es auch bei dir zu sein.
Doch sei gewarnt! Es ist sehr gefährlich. Der Körper, welcher in unserer Welt zurückbleibt, und der Geist, welcher durch das fremde Reich wandert, sind nur noch durch eine Art dünnen Faden verbunden. Je länger Körper und Geist getrennt sind, je schwächer wird diese Verbindung. Wird der Strang kurzzeitig getrennt, finden die beiden Enden oft wieder zusammen. Ist dem jedoch nicht so, bleibt der Geist zurück und ist für immer im Reich der Toten gefangen. Der Körper in unserer Welt zerfällt langsam. Er stirbt. Die leere Hülle verbleibt in unserer Welt, während die Seele ins Reich der Toten geht. Das ist der Tod.
Jedes Lebewesen, welches in unserer Welt stirbt, kehrt ins Reich der Toten ein. Ist dessen Geist schwach, so wird es von anderen dort lebenden Geistern, Teufeln und Dämonen übernommen und versklavt oder verwandelt sich in eine abscheuliche Bestie ohne eigenen Willen. Ist der Geist stark, so behält man entweder einen klaren Verstand und sitzt bis in die Unendlichkeit dort fest oder wird ein rachsüchtiger böser Geist oder Dämon.“
Xenos machen diese Worte nachdenklich: „Die Pforte vor Buna brachte die Kreaturen des Totenreiches in unsere Welt. Ebenso konnten sie aber auch durch sie zurückkehren. Kann ich, als Mensch, durch diese Pforte das fremde Reich betreten?“
„Jeder Bewohner des Totenreiches kann durch solch ein Tor unsere Welt betreten. Ebenso können sie durch das Tor zurück. Diese Pforten können die unterschiedlichsten Formen aufweisen. Kleinere Durchgänge liegen oft versteckt in unserer Welt. Für uns Lebende ist es einer der wenigen Wege, auf denen wir mit unserem kompletten Körper in ihr Reich gelangen. Um diese zu schließen, muss man sie sogar durchschreiten.“
„Es gibt scheinbar auch einen anderen Weg, die Pforten zu schließen. Ich habe das Portal von Buna von außen gesprengt. Also muss man es nicht zwingend betreten“, stellt Xenos fest.
Der Prophet schüttelt den Kopf und antwortet: „Deine Explosion hat keinerlei Wirkung auf das Portal gehabt. Dadurch wurde es nicht zerstört. Irgendjemand oder irgendetwas muss es von innerhalb zerstört haben. Entweder waren es Soldaten vom Schlachtfeld, die sich bis ins Innere vorgekämpft hatten, oder ein guter Dämon.
Die meisten Bewohner des Totenreiches sind böse und rachsüchtige Geister und Dämonen. Sie wollen unsere Welt erobern und uns zu ihren Sklaven machen. Es gibt jedoch auch eine Minderheit, welche aus Geistern und Dämonen besteht, die dies verhindern wollen. Sie unterstehen zumeist großen Dämonenfürsten, die entweder mit den Bewohnern unserer Welt sypathisieren oder wissen, dass, sollten sie unsere Welt erobern und zerstören, sie ebenfalls ihre eigene Welt zerstören. Die beiden Welten hängen im großen Gefüge der Welten zusammen. Sie alle halten sich gegenseitig in Waage. Fällt jedoch eine dieser Welten aus dem Gleichgewicht, so wie es im Moment mit der unseren passiert, wird dies ebenfalls schwere Folgen für die anderen haben.“
„Und dennoch greifen uns die Kreaturen aus dem Reich der Toten an“, murmelt Xenos. „Wissen sie denn nicht, was geschieht?“
„Die meisten von ihnen wissen davon, jedoch glauben sie es nicht oder denken, sie können es anderweitig verhindern. Immerhin sind sie der Überzeugung, sie wären die mächtigsten Geschöpfe unseres Universums. Der Gedanke, unsere Welt zu beherrschen, ausbeuten und ausnutzen zu können, reizt sie sehr. Würden wir die Möglichkeit haben, ihre Welt zu übernehmen, würde bei vielen Lebenden ebenfalls die Gier über die Vernunft siegen. Wir und die Bewohner des Totenreiches sind gar nicht so verschieden.“
Xenos stimmt zu. Eine Weile folgen sie still dem Weg durch den tiefen Wald.
Schließlich fragt Xenos: „Wie schließe ich diese Portale? Muss ich sie nur betreten und von innen heraus explodieren lassen?“
Der Prophet zieht ein verdutztes Gesicht: „Nein, so wirst du keinen Erfolg haben. Jedes Portal ist mit einer Ebene verbunden. Diese wiederum besitzt einen Ankerstein, der sie an das Totenreich bindet. Ihn zu finden und zu entfernen lässt die Ebene instabil werden. Sie verliert ihren festen Platz. Die Verbindung zwischen ihr, unserer Welt und dem Totenreich löst sich. Sie bricht zusammen und hört auf zu existieren. Doch bevor sie endgültig verschwindet, musst du durch die Pforte wieder zurück in unsere Welt reisen. Wenn das Portal sich vorher schließt, bist du mitsamt deinem Körper in der Ebene gefangen. Jeder, der in ihr zurückbleibt, wird sich mit ihr langsam auflösen. Die einzige Rettung, wenn man es so beschreiben kann, ist es, mit deinem kompletten Körper den Rand der Ebene zu verlassen und in den Abyss zu gehen. Schließlich liegen alle diese Ebenen, wie auch unsere Welten, im Abyss. Den Abyss jedoch wieder zu verlassen ist so gut wie unmöglich. Im Grunde befindest du dich dort in der tiefsten Traumebene, im unendlichen Nichts.“
„Also ist meine einzige Überlebenschance den Ausgang zu erreichen oder ich bin im Grunde verloren“, denkt Xenos laut.
Dann sinkt sein Blick auf seine Brust: „Was hat es mit dem Kristall auf sich?“
Der Prophet trennt die Kette des Kristalles von der Kette von Xenos‘ golden schimmerndem Amulett, welches das Wappen der Nebraa, einen fliegenden Adler, zeigt. Er hebt den Kristall an der Brust des Jungen an und begutachtet ihn genau.
„Wie ich es mir dachte. Er wurde bereits aktiv. Ist dir nicht aufgefallen, was er tut?“
„Doch, ich denke schon. Es hängt mit meiner Totenform zusammen, nicht wahr?“, folgert Xenos.
„Genau. Du kannst deine Totenform noch nicht vollkommen kontrollieren. Wenn sie zu stark wird, verlierst du die Kontrolle über deinen Geist. Dies verhindert der Kristall. Früher wurde solch ein Artefakt den jungen Nekromanten gegeben, um sie während ihrer Ausbildung zu schützen, bis sie ihre Totenform beherrschten. Allerdings hält dieser Kristall nicht ewig. Jedes Mal, wenn es scheint, dass du die Kontrolle verlierst, absorbiert der Kristall die Energie und bannt sie in sich. Dies zeigt sich in seiner dunkler werdenden Färbung. Sobald der Kristall komplett schwarz ist, verliert er seine Wirkung. Er kann keine weitere Energie aufnehmen.“
Mittlerweile ist es Abend und die Dorfgrenze von Ectophe liegt nur noch ein paar hundert Meter entfernt. Xenos hat viel gelernt. Der Prophet ist ein weiser Mann, wie man es nicht anders erwarten hätte sollen. Doch noch immer beschäftigt Xenos etwas.
„Woher wisst Ihr so viel über das Reich der Toten und den Abyss? Und woher wisst Ihr so viel über mich?“
Es ist still. Nur die Grillen im hohen Gras zirpen.
Der Prophet schaut in den Himmel: „Es ist spät und wir sind gleich da. Es gibt vieles, was du noch nicht weißt und noch viel mehr, was du noch lernen musst. Wir werden uns wiedersehen. Und irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem ich mich erkläre. Doch dieser Zeitpunkt ist nicht heute.“
Mit diesen Worten verabschiedet er sich und dreht sich um, um wieder in die andere Richtung zurückzukehren.
„Wartet!“, ruft Xenos.
Der Junge dreht sich um, doch dort ist niemand mehr. Der alte Mann ist verschwunden.
Geschrieben von: | Mika |
Idee von: | Mika |
Korrekturgelesen von: | May |
Veröffentlicht am: | 01.08.2015 |
Zuletzt bearbeitet: | 21.12.2019 |