Kapitel 16 – Die Kaiserstadt

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Noch immer reitet Xenos durch die Nacht. Bald schon werden die ersten Sonnenstrahlen am Horizont zu sehen sein. Immer wieder sackt der Junge auf dem Rücken seines wiedererweckten Pferdes zusammen. Immer wieder schreckt er auf. Xenos findet keine Ruhe auf diesem so unruhigen Ritt. Doch sein Pferd trägt ihn unermüdlich durch die finstere Nacht. Dann schließt Xenos wieder die Augen, er sackt langsam zusammen, gleitet schließlich von seinem Pferd und fällt unsanft zu Boden. Er erschreckt und springt auf. Das Pferd bleibt stehen. Sie befinden sich auf einem riesigen Friedhof. Bis zum Ende seines Sichtfeldes liegen vom Mond beschienene Grabplatten auf dem Boden. Doch schon fallen Xenos wieder die Augen zu. Noch einmal kann er sich wachhalten.

Übermüdet murmelt er: „Grab der Toten.“

Sein Pferd versinkt im Boden, die Gräber beginnen zu rumoren, während Xenos auf seine Knie sackt und schließlich zur Seite umfällt. Er fällt in das weiche, kühle Gras neben einem der Gräber und schläft ein.

Die Sonne ist schon aufgegangen, als sich lautes Galoppieren von Pferden vernehmen lässt. Eine Gruppe Soldaten in prunkvollen Rüstungen reitet mit gepanzerten Pferden über den Friedhof. Hinter sich her ziehen sie einige Wagen und bei sich tragen sie farbenprächtige Fahnen und meisterlich gebundene Blumenkränze. Als sie näherkommen, erblicken sie einen kleinen Jungen, der neben einer der Grabplatten liegt. Schnell sattelt einer der Soldaten ab und kommt herüber.

Sachte berührt er den Jungen: „Hey, Kleiner, geht es dir gut?“

Dieser erwacht und schreckt auf. Noch sichtlich müde und mit großen Augenringen schaut Xenos den vor ihm knienden Soldaten an.

„Wer bist du denn und wie kommst du hier her?“, will der Soldat nun wissen.

Xenos schaut sich um. Erst jetzt fällt ihm wieder ein, wo er ist.

„I-ich bin Xenos Nebraa. I-ich bin …“

Er wird unterbrochen: „Xenos Nebraa? Du bist Xenos Nebraa? Der Kaiser erwartet dich schon seit fünf Tagen.“

Der Mann steht auf und wendet sich den anderen Soldaten zu: „Bringt etwas Proviant und Wasser!“

„Wer seid ihr?“, fragt Xenos.

„Wir sind Soldaten der kaiserlichen Garde. Das hier ist der Kriegsfriedhof vor Rivo. Wir sind hier, um den Gefallenen unseren Respekt zu zollen. Heute morgen sind wir von Rivo aus losgeritten.“

Nun bringt einer der Soldaten dem Jungen etwas Proviant und Wasser. Ohne zu zögern nimmt Xenos es entgegen und beginnt sich zu stärken.

„Wir werden dich von hier an persönlich zum Kaiser eskortieren“, meint der Mann vor ihm. „Es ist nur ein schneller Tagesritt bis zum Signalturm Omikron.“

Xenos bedankt sich für die herzliche Hilfe. Während er isst, säubern die Soldaten den Friedhof und legen die mitgebrachten Blumenkränze nieder. Xenos kommt das Angebot der Eskorte wirklich sehr gelegen. Er fühlt sich nicht sonderlich ausgeschlafen. Nur wenige Stunden Ruhe hat er in dieser Nacht bekommen. Zudem müsste er nun zu Fuß weiterreisen. Der Junge ist erleichtert. Signalturm Omikron, zu dem sie ihn heute bringen, ist die erste äußere Bastion der südlichen Verteidigungslinien der Kaiserstadt. Von dort aus ist es nur noch ein knapper Tagesmarsch. Er hat sein Ziel fast erreicht. Sofort kommen ihm neue Gedanken. Er wird endlich mit dem Kaiser sprechen und Ayame wiederfinden. Ebenfalls muss er ihm unbedingt von der Warnung von Ignis erzählen. Bereits in wenigen Tagen wird es die größte Schlacht zwischen uns und den Dämonen geben, die jemals gewütet hat. Mehr Informationen dazu wären wirklich hilfreich gewesen.

„Wir sind aufbruchbereit“, wird Xenos von einem der Soldaten aus seinen Gedanken gerissen.

Xenos nickt und setzt sich auf einen der Wagen, die die Garde hinter sich herziehen. Der müde Junge bekommt noch mit, wie die Karawane an Rivo vorbeizieht, bis ihn das Schaukeln des Wagens auf den unebenen Straßen wieder in den Schlaf sinken lässt. Die letzten Ereignisse haben zu sehr an seinen Kräften gezerrt.

Xenos erwacht erst wieder, als der Trupp schließlich anhält. Der Himmel ist schon in das leichte Rot der Abendsonne gehüllt. Er hat den ganzen Tag verschlafen. Ein Soldat in noch prunkvollerer Rüstung kommt auf ihn zu.

„Guten Abend, junger Nachkomme der Nebraa“, empfängt er Xenos. „Wir begrüßen Euch in der äußersten südlichen Bastion der Kaiserstadt, dem Signalturm Omikron. Ich bin General Otsuka Taki, oberster Befehlshaber dieses Postens. Der Kaiser erwartet Euch bereits. Wir haben einen Falken zur Kaiserstadt geschickt, welcher die Nachricht über Eure unversehrte Ankunft bei uns überbringt. Ich schlage vor, Ihr brecht morgen in aller Frühe auf.“

Xenos reagiert leicht verwundert auf diesen überaus höflichen Empfang. Solch hochtrabenden Ton ihm gegenüber hätte er nicht erwartet. Er bedankt sich formell und macht sich bereit, dem General zu folgen.

Die Bastion Omikron ist aufgebaut wie jede der zwölf Bastionen rund um die Kaiserstadt. Sie wird von einer einfachen, aber stabilen Mauer begrenzt. Vor und hinter den Mauern stehen hölzerne Baracken und kleinere Häuser. In der Mitte des Außenpostens steht ein riesiger Signalturm, das eigentliche Herzstück der Außenposten. Auf der Spitze des Wachtturms befindet sich ein Signalfeuer, das bei drohender Gefahr entzündet wird.

In eben diesen Turm wird Xenos von General Taki geführt. Ihm wird ein kleines, schlicht eingerichtetes Zimmer zugewiesen. Normalerweise nächtigen hier reisende Adlige oder hohe Militärs. Der Raum hat hohe, kalte Steinwände, einen kleinen Schrank und ein großes Himmelbett. Ebenfalls steht in einer Ecke ein leerer Rüstungsständer.

„Ihr könnt Euer Gepäck erstmal hier lassen. In wenigen Minuten gibt es unten Abendessen. Danach könnt Ihr Euch natürlich wieder auf Euer Gemach zurückziehen.“

Xenos legt seine Sachen auf das weiche Bett. Er ist zufrieden. Trotz all der Widrigkeiten hat er es endlich geschafft. Bald wird er den Kaiser sprechen. Einen Moment hält er inne, bevor er den Raum verlässt und sich wieder auf den Weg nach unten macht.

Nach dem Essen folgt Xenos den Treppen weiter hinauf bis zur Spitze des Signalturms. Nach oben hin wird der Turm immer schmaler. Schließlich erreicht er das Dach. Sofort fällt ihm der gewaltige Pagodenfeuerholzhaufen auf. Dann schwenkt sein Blick in die Ferne. Ihm bietet sich eine atemberaubende Aussicht. Die nahezu gänzlich verschwundene Sonne lässt die ihn umgebenden Wiesen golden glänzen. In der Ferne tanzen kleine Lichter entlang der Straßen.

„Eine wundervolle Aussicht, nicht wahr?“, hört man eine Stimme von weiter hinten sprechen.

Schreckartig dreht sich Xenos um: „Oh, verzeiht, ich habe Euch gar nicht bemerkt.“

Ihm gegenüber steht eine Wache an die Mauer gelehnt. Sie winkt ab.

„Das macht doch nichts“, antwortet der Wachmann und kommt auf Xenos zu. „Es ist wirklich beeindruckend hier oben, nicht wahr?“

„Man kann so weit in die Ferne schauen“, meint Xenos voller Begeisterung.

„Auf jeden Fall. Das ist auch dringend nötig. Wir müssen Sichtkontakt zu den im gesamten Gebiet patrouillierenden Truppen und den anderen Türmen halten.“ Er deutet mit seinem Finger Richtung Westen: „Dort drüben steht zum Beispiel der Signalturm Kappa, der südwestliche Signalturm der äußeren Verteidigungslinie. Seine Spitze kannst du in diesem Licht gerade noch so erkennen. In gegenüberliegender Richtung steht der Signalturm Omega, der südöstliche Signalturm der äußeren Verteidigungslinie. Dort drüben auf dem Hügel. Wenn einer von ihnen sein Signalfeuer entfachen würde, entginge uns das nicht.“

Xenos hört ihm interessiert zu. Noch nie zuvor war er hier. Noch nie hat er die Kaiserstadt oder ihre legendären Signaltürme mit eigenen Augen sehen dürfen.

„Der wichigste Signalturm für unsere Position ist jedoch der Signalturm Alpha. Das ist der südliche Signalturm der inneren Verteidigungslinie.“

„Das Verteidigungssystem der Kaiserstadt ist wirklich beeindruckend“, lässt Xenos den Soldaten wissen.

Er nickt dem Jungen zu. Sie lehnen sich beide an die Mauer und schauen in die Ferne.

„Den halben Tag hier oben zu stehen und auszuharren ist zwar nicht ganz der Beruf, den ich mir wünschte, aber die wunderschöne Aussicht entschädigt einen dafür. Und obwohl seit über einhundert Jahren kein Signalfeuer mehr brannte, bin ich dennoch stolz, so eine wichtige Aufgabe zu haben.“

„Seit über einhundert Jahren“, murmelt Xenos leise.

„Zur Zeit der großen Eiskriege war die Kaiserstadt oftmals endlos scheinenden Angriffen ausgesetzt. Erst kurz vor Ende des Krieges schafften sie es, die erste Mauer zu durchbrechen. Im ersten Ring erlitten die Angreifer jedoch verheerende Verluste und mussten ein für alle Mal aufgeben.“

Eine Weile genießen die beiden noch die Aussicht, bis die Sonne schließlich komplett verschwunden ist und der Mond emporsteigt. Schließlich verlässt Xenos die Plattform und macht sich auf den Weg ins Bett. Dort versinkt er schnell in einen ruhigen und besinnlichen Schlaf.

Pünktlich zum Morgenappell wird Xenos geweckt. Während die Soldaten ihr Morgentraining hinter sich bringen, macht sich Xenos fertig und packt seine Sachen. Als er schließlich auf den Vorplatz kommt, macht sich die kaiserliche Garde, welche ihn gestern auf dem Friedhof vor Rivo geborgen hat, schon bereit, in Richtung Signalturm Alpha aufzubrechen.

Ein Stallknappe bringt Xenos ein Pferd: „Hier, Ihr reitet mit der Garde zur Kaiserstadt.“

Der Junge bedankt sich und schließt sich der Garde an, welche kurz darauf aufbricht.

Gegen Mittag erreichen sie den Signalturm Alpha, wo die Garde eine Pause einlegt. Unterwegs sind sie schon einigen Patrouillen begegnet. Innerhalb der äußeren Verteidigungslinie der Signaltürme sind diese kleinen Gruppen den ganzen Tag unterwegs und reiten durch die umliegende Landschaft sowie Güter und Siedlungen.

Nach der Mittagspause setzt die Garde zügig ihren Weg zur Kaiserstadt fort. Bald schon lassen sich die hohen und dicken Mauern des ersten Ringes der Kaiserstadt sehen. Ein überwältigender Anblick. Kurz bevor die Abenddämmerung einsetzt, kommen sie in der Kaiserstadt an. Bejubelt von den Bewohnern am Straßenrand, trabt die Garde durch den ersten Ring, das Arenaviertel. Gemeinsam passieren sie das Südtor der Mauer des zweiten Ringes hinein ins Speicherviertel.

Schließlich spricht einer der Männer Xenos an: „Ich werde Euch nun zu Eurer Herberge bringen. Der Kaiser empfängt Euch morgen nach dem Mittag. Das Schloss liegt geradeaus, hinter der Mauer des dritten Ringes.“

Xenos nickt ihm zu und die beiden lassen sich von der Garde zurückfallen, welche nun an der Kreuzung nach rechts biegt. Der Soldat und Xenos reiten in die gegenüberliegende Straße. Kurz vor der Mauer, die das im Westen gelegene, innere Marktviertel vom Speicherviertel trennt, liegt ein schlicht gehaltenes Gasthaus.

„Hier werdet Ihr heute nächtigen“, meint der Gardist.

Er drückt dem kleinen Jungen einige Gredim in die Hand. Xenos bedankt sich höflich und verabschiedet sich.

In aller Frühe ist der Nekromant bereits wieder auf den Beinen und verlässt das Gasthaus. Vor der Audienz mit dem Kaiser will er sich noch etwas in der großen Stadt umschauen. Seine Neugier über diese große Stadt treibt ihn an.

Die Kaiserstadt ist in drei Ringe gegliedert. Die äußeren beiden sind nochmal durch zusätzliche Mauern in vier Bezirke pro Ring unterteilt. Im dritten und innersten Ring liegen der Palast und der Palastgarten. Im äußeren und inneren westlichen Viertel befinden sich viele Läden. Es sind die großen Marktviertel. Hier spielt sich das Leben in der Stadt ab. Jedes Viertel hat eine andere Widmung. Dem inneren nördlichen Viertel wird zum Beispiel eine ganz besondere Aufgabe zuteil. Hier liegen die Häuser wichtiger Adliger, aber auch der Senat und die Akademie der kaiserlichen Magier. Es ist das wohl beeindruckendste Gebiet innerhalb der Mauern mit Ausnahme des Palastes.

Direkt nach dem Mittag macht sich Xenos auf zum Kaiser. Als der Junge den Palast betritt, wird er umgehend von einer der Palastwachen in einfacher und dennoch prunkvoller Rüstung in Empfang genommen.

Sie verbeugt sich vor ihm: „Willkommen, junger Nebraa. Bitte folgt mir. Der Kaiser erwartet Euch bereits.“

Der Junge folgt der Palastwache durch hohe, hübsch verzierte Flure und Treppen zu einer riesigen Tür, vor der zwei Soldaten Wache halten. Sie öffnen ihm die schwere Tür und lassen ihn eintreten. Hinter ihm wird die Tür wieder verschlossen.

Der Raum ist ebenso hoch und schön verziert wie die Flure. Auf dem Boden liegt ein roter Teppich, der nach vorn ausgerollt wurde. In der Mitte des Raumes ist eine lange massive Tafel aufgebaut. An den Seiten stehen schwer bewaffnete Wachen. Ein großes Portrait des derzeitigen Kaisers hängt an der linken Wand, und an der rechten Wand zieht sich ein riesiges Fenster entlang, von welchem man eine grandiose Aussicht auf das gesamte Marktviertel hat. Am Ende der Tafel, auf einem reich ausgeschmückten, leicht höhergelegten, Stuhl sitzt er – Kaiser Aerton Gredius. Man sieht dem Kaiser seine 83 Lebensjahre an. Sein graues Haar umrahmt seine mit tiefen Falten durchzogenen Gesichtszüge.

Eine ruhige, sanfte Stimme erklingt von dem älteren Mann: „Komm zu mir, mein Junge.“

Langsam geht Xenos auf den Kaiser zu. Dieser erhebt sich von seinem throngleichen Stuhl. Schließlich steht Xenos vor ihm, dem Oberhaupt des Landes, der wichtigsten Person Atra-Regnums. Eine unangenehme Stille breitet sich aus.

„Nun, mein Junge, willst du dich nicht verbeugen vor deinem Kaiser?“

Xenos schaut zu Kaiser Gredius empor. Er schweigt. Der Junge weiß, dass es der höflichen Etikette entspricht. In diesem Zusammenhang ist es allerdings zeitgleich eine Geste der Unterwürfigkeit. Aus diesem Grund wird er es nicht tun. Er wird sich nicht unterwerfen. Dieses Treffen, so sieht es der Junge, ist eine Audienz in gegenseitigem Interesse. Es ist an der Zeit, dass sie Ayame wiederfinden, damit die Welt wieder ins Gleichgewicht kommt.

Schließlich antwortet Xenos: „Ihr habt meinen tiefsten Respekt, mein Kaiser. Aber ich werde mich nicht verbeugen.“
Erneut herrscht Stille.

„Nun gut, lassen wir das und setzen uns“, schmunzelt Aerton und setzt sich. „Du weißt, warum ich dich hergebeten habe.“

Xenos nickt ihm ernst zu.

„Wir wissen beide, dass die Welt immer weiter aus dem Gleichgewicht gerät. Die jüngsten Ereignisse im ehemaligen Außenposten Buna sind das beste Beispiel hierfür. Es wird Zeit, dass wir deine Schwester Ayame wiederfinden. Leider hat die Suche der letzten vier Jahre keine verfolgbaren Spuren aufdecken können. Es ist, als würde Ayame gar nicht mehr existieren. Doch ohne euch beide steht unsere Welt, wie wir sie kennen, vor dem Abgrund.“

„Das ist mir bewusst“, erwidert Xenos. „Ich hatte gehofft, Ihr würdet mir Einblick in die bisher gesammelten Informationen geben, damit ich mir selbst ein Bild machen kann.“

Kaiser Gredius nickt: „Das lässt sich einrichten. Alle Aufzeichnungen befinden sich in der Bibliothek der Akademie der kaiserlichen Magier. Doch alle Spuren bis auf eine sind bis jetzt im Sande verlaufen.“

Xenos wird stutzig: „Bis auf eine?“

„Ja, eine Spur ist noch übrig, jedoch kann … „

Kaiser Gredius wird unterbrochen. Die schwere Tür des Saales öffnet sich mit lautem Knarren. Eine Stadtwache sprintet hastig hinein und wirft sich zu Boden.

„Mein Kaiser, die Signalfeuer brennen!“


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 01.03.2016
Zuletzt bearbeitet: 16.06.2020
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