Kurz nachdem es zum ersten Angriff gekommen ist, steigen aus der Dämonen-Armee, welche sich noch immer auf die Mauer zu bewegt, dutzende Kobolde auf und fliegen auf die Mauer zu. Sofort fliegen ihnen unzählige Pfeile entgegen, doch nur wenige treffen ihr Ziel. Diese furchteinflößenden Kreaturen weichen ihnen mit flinken Manövern einfach aus.
Zwei Gruppen von Kampfmagiern der Akademie eilen zur Verstärkung auf die Mauer. Sie beginnen neben den Pfeilen der Bogenschützen mit Feuer- und Eisbällen auf die angreifenden Kobolde zu schießen, während vier Magier mit arkaner Kreide zwei Sigille auf den Wall zeichnen.
Schließlich erreichen die Kobolde die Mauern und gehen in den Sturzflug. Doch schon schießen ihnen andere Kobolde entgegen. Die Magier beschwören sie unentwegt durch die fertiggestellten Sigille. In der Luft entbrennt ein unübersichtlicher Kampf zwischen guten und bösen Kobolden, bis die guten Kreaturen nach hartem Gefecht die Oberhand erlangen und die Feinde zurückdrängen.
Erneut feuern die nun nachgeladenen Trebuchets und Katapulte. Scharfsinnig verfolgt Xenos die Bahn der brennenden Geschosse. Doch nicht nur er ist darauf vorbereitet. Die riesigen Behemoths machen sich dieses Mal bereit, die gefährlichen brennenden Steine aufzufangen.
Xenos reagiert schnell: „Captando nectens!“
Ranken schießen aus der Horde hervor und umschlingen die in der Schussbahn stehenden Riesen. Sie sind bewegungsunfähig. Alle Geschosse gehen in dem schieren Meer aus Dämonen nieder. Doch schon kurz danach ist nichts mehr zu sehen. Die Lücken sind mit neuen unbeschreiblich hässlich aussehenden Kreaturen gefüllt. Nach wie vor reißt der Strom der Kreaturen des Totenreiches nicht ab. Noch immer rücken sie vom Horizont her nach. Es ist gar so als würde sie alles angreifen, was jemals gestorben ist.
Die ersten Kreaturen erreichen die dicke Außenmauer. Sie überrennen das kleine Vordorf vor dem Westtor und beginnen sich am Tor und den Mauern zu schaffen zu machen. Immer erbitterter schießen die Bogenschützen auf die Feinde. Soldaten schmeißen Steine hinunter. Schließlich müssen sie sich jedoch zurückziehen. Die riesigen Dämonen erreichen die Mauer. Zwar sind sie gerade einmal halb so groß wie die Mauer, doch beginnen sie zusammenzuarbeiten und sich übereinanderzustellen. Einige Nahkämpfer stürmen Xenos entgegen als auch er sich von der Mauer zurückzieht. Vergeblich versuchen sie mit ihren Waffen den Riesen zu Leibe zu rücken, welche die Steine der Mauer mühelos herausbrechen und ins Marktviertel schleudern.
Unten auf den Staßen ist mittlerweile Panik ausgebrochen. Die Bürger rennen um ihr Leben, haben, wenn überhaupt, nur das Wichtigste dabei. Mauersteine schlagen unaufhörlich auf Häuser und Straßen nieder. Die Stadtwachen helfen bei der Evakuierung. Der äußere Druck auf das große Torhaus nimmt immer weiter zu. Die Dämonen versuchen es mit aller Härte aufzubrechen. Schließlich hört man das erste der drei massiven Eichentore bersten. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie in die Stadt vordringen. Erneut benutzt Xenos seine Ranken. Zwischen den Toren und Fallgittern des Torhauses lässt er ein dichtes Rankengeflecht wachsen. Das sollte zumindest einige Minuten mehr Zeit verschaffen.
Xenos macht sich auf die Suche nach einem der zuständigen Generäle. Hinter der zweiten Mauer findet er schließlich die provisorisch errichtete Kommandozentrale. Ein General ist vor Ort. Er ist vermutlich der Einzige in der gesamten Stadt. Es herrscht Ratlosigkeit unter den Befehlshabern.
Xenos meldet sich zu Wort: „Die erste Mauer ist verloren. Wie wäre es, wenn wir die Dämonen in das Marktviertel vorrücken lassen? Dann flankieren wir die Eindringlinge von drei Seiten: der inneren Mauer und den Verbindungsmauern zum Nord- und Südviertel des Außenringes.“
„Natürlich, natürlich“, wendet sich der General an Xenos. „Das ist auch unser bevorzugter Plan. Doch sobald die Riesen in der Stadt sind, sind die Bogenschützen auf den Mauern nicht mehr sicher und die Feinde dringen in die nächsten drei Bezirke vor.“
Xenos nickt. Der General hat recht. Der Junge überlegt. Irgendwo muss er den Stein von Ignis zerbrechen. Ohne ihn haben sie keine Chance. Sie müssen sich lediglich um die Behemoths kümmern. So können die Soldaten auf den Mauern bleiben. Diesen Vorschlag kann er aber unmöglich machen. Er hat nur eine Wahl. Er muss zurück in den Außenbezirk und den Stein zerbrechen, sobald alle anderen evakuiert sind. Er verlässt die Zentrale und macht sich auf den Weg zurück.
Das äußere Marktviertel gleicht einer Geisterstadt. Weder Bürger noch Wachen sind mehr in den Straßen unterwegs. Türen und Läden wurden teils weit offenstehend hinterlassen und gewähren einen Blick ins finstere Hausinnere. Überall auf den Straßen liegen zurückgelassene Habseligkeiten. Fluchtartig haben alle das Viertel aus Angst vor den jeden Moment einfallenden Dämonen verlassen. Nur am Westtor hält noch ein Trupp die Stellung. Es sind starke Soldaten, doch selbst ihnen kann man die Angst und Unsicherheit deutlich ansehen. Gegen so etwas haben sie noch nie kämpfen müssen. Vereinzelt werfen die gigantischen Riesen vor den Mauern noch immer Mauerbrocken ins Innere. Auf den Mauern rund um den Bezirk gehen die Stadtwachen in Stellung. Plötzlich beziehen auf der nördlichen Verbindungsmauer zum Handwerksviertel viele Bogenschützen in olivgrünen Panzerungen Stellung. Auf ihrer Brust tragen sie das Symbol eines weißen Adlers. Das sind elfische Truppen! Das muss Verstärkung aus Neolin sein! Gerade zum richtigen Zeitpunkt!
„Ihr solltet von hier verschwinden“, richtet sich Xenos nun an den verlorenen Trupp vor dem Tor. „Alle sind entkommen. Die Mauern sind bemannt. Wenn ihr hier bleibt, ist das euer sicherer Tod.“
Die Männer wenden sich Xenos zu, als ihnen allen etwas auffällt. Es ist plötzlich ruhig im Torhaus. Kein unerträgliches Gekreische und Gehämmere lässt sich mehr vernehmen. – Totenstille.
Von den Mauern schreien die anderen Soldaten hinab zur Einheit vor dem Tor. Sie winken panisch mit den Armen. Man kann sie nicht verstehen, doch allen ist klar, was sie meinen. Unverzüglich setzen sich alle in Bewegung und rennen vor dem Tor weg. Doch es ist zu spät. Wie ein dünnes Blatt Papier reißt eine riesige Feuerwalze das Außentor ein. Sie fegt über die Soldaten, Xenos und die große Hauptstraße des äußeren Marktviertels direkt auf das zweite Tor zu.
Taub und mit verzerrter Sicht, nur durch seinen Überlebenstrieb geleitet, stämmt sich Xenos verwundet unter den ihn überhäufenden, heißen Trümmern und versengten Leichenteilen hervor. Das Tor ist offen. Unzählige Dämonen beginnen in die Stadt zu stürmen. Die Häuser links und rechts der Straße stehen in Flammen. Der gesamte Trupp wurde lebendig eingeäschert. Man erkennt nur noch verkohltes Fleisch, gesprungene Knochen und deformierte Rüstungsteile. Die Walze hatte eine so starke Hitze, dass der Stahl innerhalb von Sekunden zu schmelzen begann. Der Junge hatte ein ungeheures Glück. Schnell versucht er sich mit seinen Verletzungen zurückzuziehen. Das zweite Tor wurde ebenfalls noch schwer beschädigt. Es ist von außen komplett verkohlt, hält jedoch stand.
Mit letzter Kraft schleppt sich Xenos in eines der Häuser. Sein linker Arm weist schwere Verbrennungen auf. Er hat starke Schmerzen. Im Haus sinkt er zu Boden. Durch die von der Hitze gesprungenen Fensterscheiben sieht er groteske Gestalten von unvorstellbarer Hässlichkeit und Grausamkeit vorbeiziehen. Er verliert das Bewusstsein.
Zahlreiche Explosionen in der Ferne lassen Xenos wieder erwachen. Er versucht sich aufzuraffen, sinkt aber vor Schreck schnell wieder zurück zu Boden, als eine dieser räudigen Kreaturen ihre entstellte Visage durch das Fenster schiebt. Xenos versucht ruhig zu bleiben. Das Monster scheint ihn nicht zu bemerken. Schließlich wendet es sich ab und geht. Leise tastet sich Xenos zu einem der Fenster, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Die Straßen sind übersät mit Dämonen. Er sitzt fest. Ohne auf sich aufmerksam zu machen, versucht er, in die zweite Etage zu gelangen. Dort kann er sich leichter verstecken. Wenn er gesehen wird, ist er tot.
Nach einer Weile nimmt der Junge einen neuen Geruch unter den furchtbar faulig stinkenden Gerüchen der Bewohner des Totenreiches wahr. Er schreckt auf. Es brennt! Langsam tastet er sich an den Wänden entlang. Eine der Wände zum Nachbarhaus ist wahnsinnig heiß. Er kann nicht mehr lange hier verweilen und riskiert einen weiteren Blick nach draußen. Der Junge entschließt sich, den Stein von Ignis hinaus auf die Straße zu werfen. Er hofft, dass dieser davon zerbricht und sich aktiviert. Während die Dämonen dann beschäftigt sind, will er sich in Sicherheit bringen.
Unter Schmerzen öffnet er das Fenster und schaut hinaus. Xenos wundert sich. Alle Monster drängen in den Norden. Er nimmt den Stein in die Hand. So weit er kann, wirft er ihn auf den Platz in der Mitte des Marktviertels. Mit einem lauten Knall zerspringt er zu feinem Staub. Er hat es geschafft. Doch es passiert nichts. Nichts ist geschehen bis auf den lauten Knall. Blitzartig blicken die furchtbaren Kreaturen hinauf zu Xenos. Dieser schreckt vom offenen Fenster zurück und fällt nach hinten. Langsam umringen die Dämonen das Haus und machen eine Flucht unmöglich. Zeitgleich wird es im Obergeschoss heißer und heißer. Xenos flucht und rafft sich auf. Verzweifelt schüttelt er den Kopf, während sich an den Decken langsam der Rauch sammelt und die Kreaturen versuchen in das Haus einzudringen. Er ist verloren. Hier endet sein Abenteuer.
Seine Augen füllen sich mit Entschlossenheit. Er nimmt einen größeren Splitter einer zersprungenen Fensterscheibe und rennt hinunter ins Erdgeschoss. Die Tür gibt immer stärker nach. In den Fenstern blickt er den hässlichen Gestalten direkt ins Gesicht. Ein letztes Mal holt er tief Luft, setzt dann die Scherbe an seinem verbrannten Arm an und zieht einen langen Schnitt. Sofort beginnt das Blut zu fließen. Unaufhörlich läuft es zu Boden und bildet so im gesamten Erdgeschoss ein riesiges Sigill. Geschwächt rettet sich Xenos zurück ins Obergeschoss. Die Tür zerberstet. Der schwarzhaarige Junge sinkt auf die Knie.
Er schreit: „Kommt, meine Diener!“
Sofort bricht im Untergeschoss ein gewaltiger Tumult aus. Der Nekromant ruft alle seine verbliebenen untoten Diener. Von seiner Kleidung reißt sich Xenos eine Stoffbahn ab und schnürt sie sich fest um seinen Arm, um die Blutung wieder zu stoppen.
Er atmet auf: „Auch wenn ich hier nicht mehr entkomme, leiste ich bis zum Schluss Widerstand.“
Stück für Stück schaffen es Xenos‘ Untote, die Kreaturen aus dem Reich der Toten zurückzudrängen. Mit solcher Stärke hätte selbst er nicht gerechnet. Vorsichtig geht er nach unten und traut seinen Augen nicht. Mehr und mehr Untote dringen zu seiner Verstärkung aus dem Sigill. Er wundert sich. So viele Körper hat er nie eingesammelt. Dann fallen ihm die Wappen an den mit schwerer Rüstung gepanzerten Untoten auf. Es sind kaiserliche Soldaten. Jetzt beginnt er sich zu erinnern. Auf dem Kriegsfriedhof vor Rivo hat er seinen „Grab der Toten“-Zauber genutzt, um sein untotes Pferd verschwinden zu lassen. Er schlief ein. Währenddessen muss der Zauber weiter aktiv gewesen sein. Es sind die Soldaten vom Friedhof. Ein Grinsen schleicht sich auf Xenos‘ Gesicht. Er zieht sich die Kapuze seines Umhanges über und verlässt im Schutz seiner untoten Soldaten das Haus.
Xenos schleppt sich über den Marktplatz, als es plötzlich eine anhaltende, starke Erschütterung gibt. Xenos sackt zu Boden und versucht sich zu schützen. Ein gigantisches Portal tut sich in der Mitte des Platzes auf. Aus dem Nichts wächst es aus dem Boden. Sofort drängen noch mehr von diesen scheußlichen Kreaturen aus dem Portal auf die Straßen. Doch anstatt sich ihren Artgenossen anzuschließen, drängen sie diese in erbitterten und brutalen Kämpfen immer weiter zurück.
Plötzlich vernimmt Xenos ein bekanntes Lachen: „Hihihi, da hast du uns aber lange warten lassen.“
Durch die Horden bewegen sich Schritte auf den Jungen zu. Jemand beugt sich zu ihm herab. Xenos erkennt ihn. Es ist Ignis.
„Schau mal einer an, du hast ja schon ziemlich was abbekommen, hihi. Wenn du so weitermachst, kommst du hier wohl nicht mehr lebend raus. Und das wäre gar nicht gut.“
Der Dämonenfürst legt seine raue Hand auf Xenos‘ verbrannten und aufgeschnittenen Arm und die andere auf seinen Knöchel. Die Beschwerden des jungen Nekromanten beginnen zu verfliegen. Ignis entfernt noch die notdürftige Bandage von Xenos‘ Arm. Dann erhebt er sich wieder.
„Jetzt sieh zu, dass du nicht draufgehst!“, meint Ignis.
Er hebt Xenos‘ Hand und leckt mit seiner spitz zulaufenden Zunge über einen der blutigen Finger des Jungen.
Der Dämonenfürst zwinkert: „Und bei Gelegenheit solltest du auch dein angetrocknetes Blut abwaschen.“
Xenos zieht seine Hand ruckartig zurück. Der schwarzhaarige Junge steht auf und wendet sich in Richtung des Hauses, aus dem er gerade noch floh.
„Natürlich“, erwidert er trocken.
Immer weiter drängen die Diener von Ignis die Truppen des angreifenden Dämonenfürsten Heres zurück. Stück für Stück erlangen sie so die Kontrolle über den westlichen Außenbezirk und halten weitere Truppen ab, einzufallen.
Unterdessen macht sich Xenos bereit, mit seiner Armee an Untoten zum nördlichen Außenbezirk zu ziehen. Vor einiger Zeit scheinen die Feinde nämlich auch dort durchgebrochen zu sein. Gerade als er jedoch seine Armee in Bewegung setzen will, überkommt ihn ein eigenartiges, ungutes Gefühl. Schon im nächsten Moment zieht erneut eine riesige Flammenwalze ungebremst durch die Straßen des äußeren Marktviertels. Sie lässt die Dämonen und Untoten auf ihrem Weg einfach verdampfen. Schließlich trifft sie das westliche Innentor. Während sie dem Portal von Ignis keinerlei Schaden zufügt, ist das innere Tor nun jedoch offen. Über die leergefegte Schneise stürmen Heres‘ Truppen zurück in den Bezirk. Es entbrennen wieder heftige Kämpfe. Vorerst liegt die Kontrolle nun aber wieder auf Heres‘ Seite.
Das ändert Xenos‘ Lage. Er beschließt, seine Untoten doch in den Innenring zu schicken. Der Bezirk ist sicher noch nicht evakuiert. Die einfallenden Kreaturen aufzuhalten und den Leuten so Zeit zu verschaffen erscheint ihm wichtiger. So setzen sich seine stinkenden und faulenden Toten in Bewegung und kämpfen sich zum Innenring vor.
Ein wahres Massaker beginnt zur gleichen Zeit im Innenring. Die menschlichen Soldaten haben den Kreaturen des Totenreiches nichts entgegenzusetzen. Die zahlreichen Zivilisten rennen um ihr Leben. Rücksichtslos werden sie alle abgeschlachtet. Unverzüglich mischen sich Xenos‘ Diener in den Kampf ein. Die verbliebenen Soldaten machen jedoch keinen Unterschied. Sie kämpfen nicht nur gegen Heres‘ einfallende Truppen, sondern auch gegen die Unterstützung von Xenos und Ignis. Sie wissen es nicht besser. Alle diese Wesen sind für sie das Böse.
Verzweifelt versuchen die Wachen gegen die Dämonen anzukämpfen, während die Bürger in den nördlichen und südlichen Innenbezirk fliehen. Unter ihnen versucht auch Xenos in Richtung Norden zu dringen. Plötzlich stürmen die Einwohner jedoch panisch zurück in den todbringenden Bezirk. Die zahllosen Invasoren strömen bereits in den nördlichen Innenbezirk. Das Marktviertel, das Handwerksviertel und das Ministerialviertel gehören Heres. Wer weiß, wie es im Süden aussieht. Doch bereits jetzt hat Heres die halbe Stadt unter seiner Kontrolle.
Xenos beißt sich auf die Lippen: „Es sind einfach zu viele. Heute ist also der Tag, an dem die Kaiserstadt zum ersten Mal in der Geschichte fallen wird.“ …
Geschrieben von: | Mika |
Idee von: | Mika |
Korrekturgelesen von: | May |
Veröffentlicht am: | 15.04.2016 |
Zuletzt bearbeitet: | 04.11.2021 |