Langsam kommt Xenos wieder zu sich. Der Junge schaut sich um. Er befindet sich in einer dunklen Höhle. Nur durch einen schmalen Spalt in der Decke fällt Licht in den kalten Hohlraum unter der Erde. Xenos will sich aufsetzen, als ein stechender Schmerz in seiner rechten Brust ihn förmlich lähmt und wieder zu Boden sacken lässt. Vorsichtig knöpft er sein dreckiges und zerrissenes Nachthemd ein Stück auf. Von seiner Brust hinab bis zu seinem Bauch zieht sich die Bissspur, die der Geisterwolf, welcher ihn angefallen hatte, hinterlassen hat. Unter großen Schmerzen setzt er sich langsam auf und lehnt sich gegen die Höhlenwand. Erschöpft atmet er aus und schaut sich weiter um. Vor ihm liegt die Frau von vorgestern, welche der Wolf entführt hatte. Sie ist tot. In der Höhle stinkt es erbärmlich. Überall liegen Knochen und Körperteile herum. An einigen Stellen sind eingetrocknete Blutlachen zu sehen und am anderen Ende der Höhle liegt ein großer Berg Leichen aus mindestens drei Dutzend Personen. Ob dieses Monster auch andere Orte heimgesucht hat?
Plötzlich bemerkt er, dass er nicht allein ist. Aus einer tiefschwarzen Ecke tritt langsam der Geisterwolf hervor. Xenos will zurückweichen, kann sich aber vor Schmerz kaum bewegen. Bedrohlich kommt der Wolf immer näher auf ihn zu, bis er vor ihm stehenbleibt. Er beugt seinen Kopf mit den rot glühenden Augen herab. Dann schiebt er die tote Frau näher zu Xenos, ähnlich einem verspielten Hund mit seinem Spielzeug. Der Junge ist sichtlich perplex vom Verhalten des Wolfes. Noch einmal schiebt er sie näher an ihn heran.
„Willst du mir etwas sagen?“, fragt Xenos offen. „Lass mich lieber gehen!“
Es ist still als sein Bauch kurz beginnt zu grummeln. Die Kreatur rollt die Frau erneut ein Stück weiter direkt auf Xenos‘ nackte Füße.
Xenos versteht: „Du willst, dass ich meinen Hunger stille?“
Der Wolf setzt sich zufrieden.
„Das werde ich nicht essen. Menschen essen einander nicht.“
Die Ohren des riesigen Geisterwolfes stellen sich auf.
„Menschen essen andere Tiere oder Gemüse und Obst. Beeren wären auch in Ordnung“, versucht Xenos zu erklären.
Der Wolf springt auf und sprintet davon. Xenos schaut ihm nach. Warum tut der Geist dies? Warum hat er ihn nicht getötet wie die anderen?
Als er sich sicher ist, dass er wieder allein ist, versucht Xenos erneut aufzustehen, was ihm jedoch nicht gelingt. Immer wieder versucht er es, doch seine Verletzungen fesseln ihn an diesen Ort. Ihm bleibt nichts anderes übrig als abzuwarten. Seine Fußsohlen berühren den kalten, feuchten Felsboden der Höhle. Mit seinem Zeh stupst er kurz den leblosen Körper an, welcher vor ihm liegt. Er ist hier gefangen.
Mit der Zeit verschwindet das Licht vom Spalt der Decke, welches die einzige Lichtquelle in der großen Höhle ist. Es wird dunkel. Doch kaum ist der Schein verschwunden, beginnt ein neues Licht durch den Spalt zu dringen. Es ist fahl und kühl. Scheinbar ist der Mond aufgegangen. Kurz darauf kommt der Wolf wieder. Er hat einen kleinen Apfelbaum im Maul und lässt ihn vor Xenos fallen. Xenos schreckt zurück, als der Baum zu Boden kracht. Der Geist hat ihm tatsächlich etwas zu essen gebracht. Warum?
Xenos pflückt einen der kleinen Äpfel vom Baum und beißt hinein: „Warum hast du mich hierher gebracht, wenn du mich nicht töten willst wie die anderen?“
Der Geist setzt sich und beginnt zu hecheln.
Aus dem hinteren Teil der Höhle schallt Xenos eine hohe, leicht krächzende Stimme entgegen: „Nun, wir wussten, dass du bald durch eine der Ortschaften in der Nähe kommen würdest.“
Eine groß gewachsene Gestalt mit kurzen orangen Haaren in feuerroten, losen Gewändern, die doch den Anschein einer Rüstung geben, tritt langsam mit lautem hallenden Gang auf Xenos zu. Im Gesicht dieses Mannes sitzt ein breites Grinsen, welches seine spitz zulaufenden Zähne offenbart.
„Ich bin Ignis, einer der Herrscher des Totenreiches“, stellt er sich vor und verbeugt sich ausfallend. „Dämonenfürst des Feuers und Gebieter über Phönixe, Aschfunken, Ifrit und alles, was sonst noch mit Feuer zu tun hat. Ich habe meinem Hund aufgetragen dich zu finden. Nun, vielleicht ist das etwas aus dem Ruder gelaufen. Aber schau! Hier bist du, hihi.“
Xenos schreckt auf: „Einer der Herrscher des Totenreiches?“
Er versucht sich erneut hastig aufzuraffen, doch sackt wieder zurück. Der Junge wusste, dass er in Gefahr ist, aber dass er in direkter Gefangenschaft von einem der obersten Dämonen ist, hätte er nicht erwartet. Wenn er nicht schnellstmöglich entkommt, ist er verloren.
Der Junge schreit: „Seelenlose Besetzung!“
Der Berg an Leichen erhebt sich und stürzt unmittelbar auf den mächtigen Dämon zu. Sofort beginnt der Geisterwolf die reanimierten Toten zu stoppen. Keiner von ihnen erreicht den Fürsten.
„Sachte, sachte kleiner, naiver Xenos“, kichert der Dämonenfürst. „Man könnte sagen, ich bin auf deiner Seite.“
Xenos glaubt ihm nicht. Seine Neugier über das, was ihm der Dämonenfürst zu sagen hat, ist aber dennoch geweckt. Immerhin hätte Ignis ihn schon längst töten können.
„Wie meint Ihr das?“
„Nun, hihi, ich bin hier um dich zu warnen. Heres, mein Bruder, plant dich zu vernichten oder wohl eher gefangenzunehmen. Wie auch immer. Aber das weißt du sicher schon längst. Ein interessantes Schauspiel hat sein kläglicher Versuch in Buna geboten.“
„Wovon sprecht Ihr?“, will Xenos wissen. „Ihr meint den Dämonenfürsten der Erde? Der Angriff in Buna galt mir?“
„Ja, Heres ist für die Zerstörung eurer Menschenstadt Buna verantwortlich. Unter anderem. Viele der Fürsten des Reiches der Toten haben sich zusammengetan. Ihre Machtbesessenheit treibt sie dazu, eure Welt unterwerfen zu wollen. Mit dem Angriff auf Buna haben sie auf dich abgezielt. Buna war nicht die erste Stadt, die ihnen zum Opfer gefallen ist, und mit Sicherheit nicht die letzte. Übergriffe aus unserem Reich auf eure Welt hat es schon immer gegeben. Doch mit der Entführung deiner Schwester begann ihr Feldzug. Die von ihnen herbeigesehnte dunkle Konvergenz, die Verschmelzung unserer beiden Welten, kommt ihnen zum Greifen nahe. Seither stieg die Zahl der Angriffe immer weiter an. Nun, da du dich aufmachst deine Schwester zu suchen, zwingst du sie jedoch zum Handeln. Sie haben Angst vor dir. Du bist der Einzige, der ihnen gefährlich werden kann. Noch schneller als zuvor müssen sie ihre Pläne verwirklichen. Bald schon wird es dutzende Angriffe täglich geben. Hinzu kommt, dass sie dich jagen, bis sie dich haben, koste es sie, was es wolle.“
„Warum erzählt Ihr mir das? Ihr seid doch selbst ein Dämonenfürst.“
„Hihi~, korrekt. Aber wie ich bereits erwähnte, könnte man sagen, wir stehen für dieselbe Sache ein. Auch wenn ich dir momentan nicht viel helfen kann, so kann ich dir immerhin mitteilen, was ich weiß. Bereits in wenigen Tagen wird es die größte Schlacht zwischen den Menschen und uns geben, die jemals gewütet hat. Sie wird viele Leben kosten und, wenn du keine Acht gibst, auch dein Ende sein.“
„Und wie kann ich es verhindern?“
„Das kannst du nicht, hihi“, lacht der Dämon. „Dieses Ereignis steht fest. Es wird passieren und ein großes Schauspiel werden. Haha!“
Xenos wird stutzig: „Ich dachte, Ihr seid auf meiner Seite?“
„Oh ja, das bin ich auch, ich weiß, was passiert, wenn wir eure Welt unterjochen. Nur deshalb helfe ich überhaupt einem Menschen. Ich möchte nicht durch die Machthungrigkeit meiner Geschwister ausgelöscht werden.“
„Dann helft mir, statt mich nur zu warnen!“, verlangt Xenos.
„Hey“, platzt es aus Ignis heraus, „auch eine Warnung ist eine Hilfe, hihi. Aber du sollst natürlich nicht leer ausgehen. Ich habe dir etwas mitgebracht.“
Der Dämonenfürst wirft Xenos einen durchsichtigen Stein zu, in dessen Mitte eine Art Fragment eingeschlossen ist. Der Junge schaut ihn unwissend an.“
Der Stein erschafft eine Pforte, die unsere beiden Welten verbindet, sobald du ihn zerstörst. Die große Schlacht und somit der Beginn des Krieges ist unumgänglich. Jedoch werden wir euch helfen. Zerstöre den Stein, und Dämonen, Geister und Teufel, welche die Wahrheit kennen, werden kommen und euch im Kampf unterstützen.“
„Das soll ich Euch glauben?“, fragt Xenos skeptisch.
„Ja, natürlich“, zwinkert Ignis Xenos zu. „Aber pass auf, dass dir der Stein nicht schon vorher kaputtgeht, weil du ihn fallen lässt oder ähnliches. Ihr Menschen seid ja immer so tollpatschig.“
Xenos schweigt.
„So, nun müssen wir aber wieder los. War schön dich kennenzulernen. Wir werden uns sicher wiedersehen, hihi.“
Der Dämon dreht sich um. Aus dem Nichts öffnet sich eine Pforte, ähnlich der, die Xenos bereits aus Buna kennt. Doch diese ist nicht nur kleiner, sondern wirkt auch flüchtiger. Sie besitzt keinen steinernen Rahmen. Ignis geht auf die Pforte zu. Bereits mit einem Fuß verschwunden, dreht er sich noch einmal zu Xenos um.
„Ach ja, hihi, da hätte ich doch fast was vergessen.“
Noch einmal kommt er auf Xenos zu und kniet sich dicht vor ihn. Er greift von oben in Xenos‘ Nachthemd und legt seine Hand auf die Wunde auf dessen Brust. Es brennt. Leise murmelt er ein paar unverständliche Worte, als die Verletzung langsam beginnt zu verheilen.
„So, das hätten wir dann auch. Bis zum nächsten Mal, mein kleiner Nekromant.“
Mit diesen Worten und einem Lächeln im Gesicht schreitet Ignis durch das Portal zurück ins Reich der Toten. Auch der Geisterwolf folgt ihm und einen Augenblick darauf ist die Pforte verschwunden.
Vorsichtig versucht Xenos aufzustehen. Noch immer verspürt er leichte Schmerzen, doch er kann sich bewegen. Langsam schleppt er sich aus der Höhle. Seine Gedanken kreisen. Ob Ignis einer dieser guten Dämonenfürsten ist? Am Ausgang der Höhle angekommen, findet er sich in einem Wald wieder. Der Mond scheint seicht auf den Boden. Wo ist er hier? Xenos hat die Orientierung komplett verloren. Langsam humpelt er von Baum zu Baum. Das weiche Moos des Waldbodens an seinen nackten Fußsohlen ist wesentlich angenehmer als der kalte Felsboden der Höhle. Eine ganze Weile irrt er verloren im tiefgrünen Wald umher. Erschöpft erblickt er bei Tagesanbruch endlich die Reisfelder, welche Ectophe umgeben. Mit letzter Kraft schleppt er sich ins Dorf, wo ihn die Dorfbewohner überglücklich in Empfang nehmen.
Sie kommen auf ihn zu, doch Xenos kippt um …
Als Xenos wieder erwacht, ist er in ein neues, sauberes Nachthemd gehüllt. Der Geruch von Speck und Eiern liegt in der Luft. Schon öffnet sich die Tür zu seinem Zimmer und die Frau der Herberge kommt mit einem Tablett herein.
„Du bist bereits wieder wach?“, fragt sie mit besorgter Stimme. „Sicher bist du noch immer sehr erschöpft. Noch nie zuvor kam jemand, der von diesem mächtigen Geisterwolf mitgenommen wurde, zurück. Ich bin so froh, dass es wenigstens dir gut geht.“
Die alte Dame setzt sich zu Xenos auf die Bettkante. Dieser setzt sich auf und nimmt das Tablett, gedeckt mit einem deftigen Frühstück, entgegen. Mehr als ein leises Danke hört man von dem kleinen Jungen nicht. Er hat viel durchgemacht. Langsam beginnt Xenos sein Frühstück zu essen.
„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“
Xenos schüttelt den Kopf.
„Dann werde ich den Leuten draußen helfen gehen. Ruh dich noch etwas aus.“
Die alte Frau verlässt schließlich den Raum. Xenos schaut aus dem kleinen Fenster. Er sieht nicht viel, doch er hört das laute Treiben draußen auf den Straßen.
Nach dem Essen kleidet er sich an. Noch immer verspürt er leichte Schmerzen, doch es geht ihm schon erheblich besser. Er verlässt sein Zimmer und tritt in den Flur der Herberge. Die komplette Wand der gegenüberliegenden Seite ist zerstört. Der Wolf hat einen großen Schaden angerichtet. Außerhalb des demolierten Hauses wird das Ausmaß noch deutlicher. Der vordere Teil der Herberge ist komplett zerstört. Doch die Leute lassen sich nicht entmutigen. Aufräumarbeiten sowie Reparaturen werden bereits durchgeführt. Viele Menschen sind auf den Straßen und packen an, wo sie nur können. Als ihn die Herbergsleiterin erblickt, kommt sie auf ihn zu.
„Oh Junge, da bist du ja. Du solltest dich allerdings noch etwas schonen. Wir schaffen das hier schon.“ Sie macht eine Pause. „Dennoch solltest du heute noch das Dorf verlassen.“
„Ich verstehe schon“, antwortet Xenos. „Es tut mir leid für die Umstände und Schäden, die ich verursacht habe. Ich kann nachvollziehen, dass ich nicht länger hier bleiben darf. Ich …“
Er wird von der Frau unterbrochen: „Nein, nein! So ist es nicht. Doch sollte der Geisterwolf in der Nacht wiederkommen, wird er sicher nach dir suchen. Noch einmal wirst du sicher nicht so viel Glück haben. Es wäre also besser, wenn du nicht mehr im Dorf bist sobald er kommt.“
Xenos versteht und beruhigt die Dame: „Keine Sorge, der Geist wird euch nicht mehr heimsuchen.“
„Wie meinst du das?“
„Der Geist ist besänftigt. Ich habe ihn aus dieser Gegend vertrieben“, lügt Xenos und verheimlicht so, was sich wirklich in der Höhle zugetragen hat.
„Wirklich? Wirklich? Oh, danke“, sinkt die alte Frau zu Boden und bricht vor seinen Füßen in Tränen aus: „Vielen, vielen Dank. Wie können wir dir das nur jemals danken.“
Die anderen Bewohner des Dorfes versammeln sich um die beiden. Schniefend erhebt sich die Dame und berichtet mit Erleichterung von dem, was Xenos für sie getan hat. Glücklich wischt sie sich schließlich die Tränen aus dem Gesicht. Die Leute beginnen zu jubeln. Die Stimmung der Dorfbewohner hat sich in wenigen Sekunden in eine lockere, ausgelassene und glückliche Stimmung gewandelt. Xenos jedoch zieht sich unterdessen zurück.
Auf dem Zimmer packt er seine Sachen zusammen. Lange bleibt er jedoch nicht allein. Die Herbergsleiterin kommt herein.
„Du bist plötzlich verschwunden. Ist alles in Ordnung?“
Erst jetzt bemerkt sie, dass der Junge packt: „Du willst aufbrechen?“
Xenos dreht sich um: „Ich habe während meiner Reise schon so viel Zeit verloren. Mein Ziel, die Kaiserstadt, müsste ich eigentlich schon fast erreicht haben.“
Erstaunt schaut sie ihn an: „Du bist auf dem Weg zur Kaiserstadt? Dann durchquerst du sicher Nevan und wirst auch Tenzo begegnen. Er ist der Sohn einer alten Freundin von mir. Er ist ein sehr talentierter Erfinder. Du solltest dir anschauen, was er in Nevan treibt.“
Einen kurzen Moment ist es still, bis die alte Herbergsleiterin sich zu fragen traut: „Kannst du ihm bitte etwas von mir geben, wenn du schon durch Nevan kommst?“
Xenos packt weiter: „Das kann ich. Aber ich wollte nicht lange dort bleiben. Ich habe keine Zeit, ihn erst noch zu suchen.“
„Ach, keine Sorge. Du wirst ihn sofort erkennen. Er ist ein eigensinniger Typ und fällt auf.“
„Dann kann ich ihm etwas von Euch geben.“
Eine halbe Stunde später ist Xenos zur Abreise bereit. Er verstaut das letzte Gepäck und das Päckchen, welches er Tenzo geben soll, und setzt sich auf sein Pferd. Die Leute des Dorfes haben sich versammelt. Sie alle wollen ihn verabschieden. Sie winken ihm zu, als er sein Pferd antreibt loszureiten. Noch bis er am Horizont hinter den Reisfeldern verschwindet, winken sie ihm nach. Sie sind sehr glücklich, ihren Retter von der Plage des Geisterwolfes gefunden zu haben.
Geschrieben von: | Mika |
Idee von: | Mika |
Korrekturgelesen von: | May |
Veröffentlicht am: | 01.10.2015 |
Zuletzt bearbeitet: | 23.10.2019 |