Wenige Tage sind seit den Geschehnissen von Buna vergangen. Xenos und Kumaru haben sich schnell erholt. Sie befinden sich nach wie vor auf Hof Almoran. Dort haben sie sich auf eine der umliegenden Wiesen zurückgezogen. Auf einer kleinen Anhöhe spenden drei gewaltige Buchen Schatten. Hier verbringen Xenos und Kumaru seit vorgestern fast den gesamten Tag. Doch sie sind nicht da um zu entspannen, sie sind dort um zu trainieren. Fleißig übt Kumaru den Umgang mit seinem Schwert. Xenos gibt ihm dabei nützliche Tipps und Hinweise. Grundlegende Schwerttechniken kann ihm der Nekromant vermitteln. Ein sonderlich guter Schwertkämpfer ist er jedoch selber nicht. Dennoch möchte er dem Jungen so viel Wissen wie möglich mitgeben. Er wird es brauchen.
Xenos hat beschlossen, dass Kumaru ihn nicht länger begleiten sollte. Zu gefährlich sei es, ihm weiterhin zu folgen. Gefährlicher noch als mit seinen Eltern durch unsichere Wälder zu reisen. Von Xenos‘ Entschluss weiß Kumaru noch nichts. Er wird auf die Händler warten. Bis dahin versucht Xenos aber noch, Kumaru so viel Wissen wie möglich mit auf den Weg zu geben. Der Junge soll sich selbst verteidigen können, so wie er es sich wünscht.
„Du schwankst bei seitlichen Hieben noch zu sehr“, weist Xenos an. „Wenn du aus dem Gleichgewicht kommst, bist du ein leichtes Ziel für den Gegenschlag des Feindes.“
Kumaru nickt nur und beginnt die Schrittfolge mit seinem Schwert erneut. Immer wieder wiederholt er die von Xenos bestimmten Übungen. Er ist fest entschlossen stark zu werden. Die heiße Nachmittagssonne und das harte Training treiben Kumaru den Schweiß auf die Stirn. Xenos sitzt ruhig im Schatten von einem der Bäume. Während Kumaru übt, ist er in eines seiner Bücher vertieft. Er liebt es, sich möglichst viel Wissen anzueignen. Einem Magier ist ein großer Wissensschatz mehr als hilfreich.
„Kumaru, es wird Zeit für eine Pause. Wenn du einen Sonnenstich bekommst, nützt es dir auch nichts“, unterbricht Xenos nach einer Weile Kumarus Trainingsfolge.
Dieser nickt erneut und setzt sich zu Xenos unter den Baum. Aus seiner dort abgestellten Tasche holt etwas zu trinken. Die ganze Anstrengung hat ihn durstig gemacht. Beide lehnen sich gegen die geschmeidige Rinde und lassen den Kopf an den Stamm fallen.
In den letzten Tagen hat Xenos nur wenig geschlafen. Bis in die Nacht war er wach. Er machte sich Gedanken über seine Kräfte und den Brief dieses mysteriösen Propheten. In der vergangenen Nacht schlich er sich sogar heimlich heraus. Sein Ziel war das zerstörte Buna. Er suchte nach einer Leiche, welche die Aufräumtrupps übersehen hatten, um mit seinen dunklen Kräften zu experimentieren. Kurz vor den ersten Sonnenstrahlen schlich er sich ungesehen zurück in sein Zimmer. Schlafen konnte er jedoch nicht mehr.
Beide genießen den frischen Wind, der hin und wieder über die Wiese fegt und die Gräser zum hin- und herwippen bringt. Langsam werden Xenos‘ Augen immer schwerer. Er hat Mühe sich wachzuhalten. Doch zu groß ist der Schlafmangel. Er schläft ein.
Als der Junge die Augen wieder öffnet, findet sich Xenos allein in einem komplett schwarzen Raum wieder. Langsam steht er auf und schaut sich um. Der Boden ist bedeckt mit einer Art grauem Nebel, welcher die Füße des Nekromanten umschließt. Der Raum besitzt weder Anfang noch Ende. Er scheint sich unendlich weit zu erstrecken. Vorsichtig setzt Xenos einen Fuß vor den anderen. Wo ist er hier? Wie kam er hierher?
Plötzlich setzt er seinen Fuß in die Leere. Das scheinbare Loch unter seinen Füßen breitet sich ruckartig aus. Dem Jungen bleibt keine Zeit zu reagieren. Er fällt hinab in eine unendliche Tiefe.
Dann findet er sich in Menoria wieder. Das ganze Dorf ist geschmückt. Die Straßen sind voller Leute. Festliche Musik schallt durch das Dorf.
„Mama, komm schon!“, hört Xenos ein kleines Mädchen rufen.
Die kleine Ayame bahnt sich einen Weg durch das Gedränge. Sie zieht ihre Mutter Azarni hinter sich her, die ebenfalls jemanden hinter sich her zieht. Xenos kann es nicht glauben. Hinter Azarni kommt Xenos aus der Menschenmasse hervor. Es ist der kleine Xenos. Die drei rennen an Xenos vorbei, ohne diesen zu beachten. Auch andere Menschen ziehen vorüber, ohne von dem Jungen Kenntnis zu nehmen. Plötzlich kommt jemand direkt auf Xenos zu. Dieser will gerade ausweichen, als die Person einfach durch ihn hindurchschreitet.
Jetzt erkennt Xenos, wo er ist. Er ist auf dem Frühlingsfest in Menoria. Das besondere daran ist, dass dies alles schon längst geschehen ist. Es sind längst vergangene Zeiten. Aber warum sieht Xenos diese Bilder? Dem will er auf den Grund gehen. Er verfolgt seine Familie aus der Vergangenheit. An einem Marktstand bleiben sie stehen. Azarni kauft ihren beiden Kindern eine kleine Tüte Leckereien. Langsam streckt Xenos seine Hand aus und will seinem früheren, kleineren Ich versuchen auf die Schultern zu fassen. Doch als er es berührt, sinkt sein kleines Ich plötzlich auf die Knie, fasst sich an den Kopf und schreit. Xenos schaut verdutzt. Dann passiert ihm dasselbe. Er spürt einen stechenden Schmerz im Kopf und sinkt zu Boden. Dann stürzt er wieder in die unendliche, schwarze Tiefe.
Als die Schmerzen nachlassen, sitzt er plötzlich in einem Gebüsch am Waldrand. Sein jüngeres Ich, welches jetzt noch jünger ist als eben, rennt an ihm vorbei. Xenos steht auf und tritt auf den Weg. Er schaut seinem Ich nach. Plötzlich stolpert es über einen Stein. Der kleine Xenos beginnt zu weinen.
„Na, na“, spricht eine beruhigende Stimme hinter ihm. „Nicht weinen, mein Kleiner.“
An Xenos vorbei geht sein Vater. Er beugt sich hinab zu dem kleinen Xenos und nimmt ihn in den Arm.
„Du bist so ein guter Junge, da brauchst du doch nicht zu weinen“, schaukelt er den Jungen langsam auf und ab.
Dieser hört auf zu weinen und fängt an zu lachen.
„Du bist mein Ein und Alles. Ich werde dich immer beschützen. Du bist so lieb, fröhlich und lebensfroh. Das darfst du niemals verlieren.“
Xenos wendet sich ab, verlässt den Schauplatz und geht zurück in das schwarze Nichts, welches die kleine grüne Insel umgibt.
„Für immer beschützen wollte er mich. Er hat sein Wort gebrochen. Also kann er auch nicht verlangen, dass ich für immer seinen Idealen entspreche. Viel zu lange habe ich geglaubt, die Welt wäre perfekt. Ich war wirklich dumm! Man muss die Welt erkennen, wie sie wirklich ist. Und das ist nicht die Welt, wie sie viele Leute sehen! Durch diese Welt kann man nicht unbeschwert und froh wandeln.“
Immer weiter schreitet Xenos in die Dunkelheit. Plötzlich erblickt er vor sich einen modrigen, dunklen Raum. Ein kleines Feuer lodert in ihm. Als er näherkommt, erkennt der Junge, um welchen Ausschnitt seines Lebens es sich handelt. Gefesselt an Ketten, mit verbundenen Augen und nur einem tiefschwarzen Tuch bedeckt, liegt der kleine Xenos auf einem Steinaltar. Mit lautem Knarren öffnet sich eine schwere Tür. Vermummte Männer in verzierten Roben treten ein. Einer von ihnen stellt sich an den Altar. Xenos stellt sich ans Kopfende seines Ichs. Sein kleines Ich wird langsam unruhiger. Die Geräusche bereiten ihm Unbehagen. Einer der Kultisten tritt vor und entfernt Xenos die Augenbinde. Die Männer rezitieren mysteriöse Texte aus einem roten Buch, dem Buch des Zyklus des Lebens. Dieses verbotene Buch ist die Schrift der zwei großen Dämonen von Blut und Fleisch.
Xenos schaut sich die Szenerie an. Er kann sich noch gut an alles erinnern. Es geschah vor ungefähr zwei Jahren. Eine lange Zeit wurde er hier gefangengehalten. Während dieser Zeit hatte man ihn oftmals misshandelt und gefoltert. Sie beenden das Rezitieren. Der Kultist bei Xenos zückt einen goldenen Dolch. Der Junge beginnt zu winseln, als er Xenos‘ linken Arm packt. Er setzt das Messer an und zieht einen langen Schnitt den Arm hinunter. Der junge Xenos schreit auf. Er beginnt zu weinen. Sofort benetzt sich der Arm mit dem Blut des Jungen. Es fließt hinunter zu seinen Fingerspitzen und tropft in eine Ritualschüssel. Der Kultist wartet, während sich die Schüssel füllt. Dann zieht er das tiefschwarze Tuch von Xenos‘ Körper. Langsam setzen sich die vermummten Männer wieder in Bewegung. Sie gehen rechts am Altar vorbei, nehmen sich eine glühende Nadel aus einem kleinen Feuer und treten vor. Hier rezitieren sie erneut einen kurzen Text aus dem Buch des Zyklus des Lebens und stechen die Nadeln nacheinander in den Körper des Jungen.
Xenos erinnert sich genau. Die Schmerzen waren unerträglich. Er wollte etwas tun gegen diese Ungerechtigkeit. Nie hatte er jemandem etwas zugefügt, jemandem Unrecht getan. Und doch wurde ihm solches Leid zugefügt. Doch heute meint er zu wissen, warum ihm dies geschehen ist. Warum ihm dies geschehen musste. Er war damals schwach und dumm. Er war selbst schuld daran, was ihm widerfahren ist. Nur so konnte er die wahre Natur der Welt begreifen.
Dann schreit Xenos sein leidendes, jüngeres Ich an: „Ich bin glücklich! Glücklich, dass du in diesem Moment diese unsagbaren Qualen erleidest!“
Daraufhin ist er wieder still: „Nun bin ich stärker. Stärker durch die Kräfte meiner geliebten Toten. Das ist mein neues Ich! Nicht dieses dumme, naive Kleinkind dort auf dem Altar vor mir. Das bin ich nicht, nicht länger. Mein neues Ich bin ich. Genau so soll es sein. Es ist gut. Ich habe unglaubliche Kräfte. Warum sollte ich mich meinem Schicksal, meiner Bestimmung widersetzen? Ich werde nicht gegen mich selbst ankämpfen, denn ich bin Xenos Nebraa!“
Der kleine Junge vor ihm erleidet mit jedem weiteren Stich unglaubliche Qualen. Er kann nicht mehr, er ist erschöpft. Ernst und gleichwohl wütend auf sich selbst schaut sich Xenos die Situation an. Doch dann beginnt etwas an Xenos‘ Brust zu leuchten. Ein gleißendes Licht hüllt ihn ein. Einen Moment später ist es wieder dunkel. Xenos ist verwundert und schaut sich um. Die Kultisten scheinen das Licht nicht bemerkt zu haben. Weiter rammen sie rücksichtslos die Nadeln in den Körper des kleinen Xenos, stecken ihre Finger in die blutgefüllte Schüssel und lecken sie genussvoll ab. Xenos will weiter zusehen, wie sein Ich gefoltert wird. Doch jede Nadel schmerzt ihn plötzlich selbst. Nicht körperlich, aber seelisch.
Unhörbar leise für die Kultisten, doch eindringlich laut für Xenos, stammelt sein erschöpftes, weinendes Ich: „Bitte hilf mir doch …“
Xenos erschreckt. Sein Ich spricht zu ihm. Es hat ihn bemerkt. Er blickt ihm in die verweinten, trüben Augen und beschließt, seiner Bitte nachzukommen.
Ohne weiteres Zutun des Nekromanten zeichnet sich auf dem Steinaltar ein Sigill aus dem Blut des Jungen. Erschrocken und verunsichert weichen die Kultisten zurück. Xenos ist erstaunt. Er kann in diese Erinnerung eingreifen? Wie kann das sein?
Doch dann greift er durch und nutzt seine Macht: „Höllenhunde, dient eurem Meister!“
Aus dem Sigill springen sechs Hunde mit je drei Köpfen. Blutrünstig stürzen sie sich auf die vermummten Männer.
„So viele Hunde habe ich noch nie gleichzeitig beschwören können. Das muss an diesem verdammten Ort liegen“, ist Xenos von seiner Kraft erstaunt.
Keiner der Männer entkommt seinem Zorn. Jeder einzelne von ihnen wird von seinen Hunden zerfleischt. Die Schreie der Männer sind bis tief in den schwarzen, unendlichen Raum zu hören. Nachdem auch die letzten Schreie verstummen, verschwinden die Hunde zurück in das Sigill. Es ist ruhig. Nur ein leises Schluchzen ist zu vernehmen. Vorsichtig berührt Xenos sein jüngeres Ich. Er spürt die warme Haut des Jungen, spürt das feuchte Blut an seinen Fingerspitzen. Der Nekromant kann vollständig in diese Erinnerung eingreifen. Xenos löst die Ketten an Händen und Füßen seines jüngeren Ichs und entfernt die Nadeln. Leise hört man ein Danke und weiteres Schluchzen. Xenos fühlt sich schlecht. Er nickt nur und verlässt die Instanz.
„Dieses Ereignis hat mein Leben verändert. Nachdem ich den Fängen des Kultes entkommen war, war ich nie wieder so, wie mein Papa es sich für mich gewünscht hätte. Seitdem bin ich so wie ich heute bin. Oftmals wiederholte sich diese Szene in meinen Träumen. Doch immer nur aus der Sicht meines jungen Ichs. Doch das hier ist anders. Das ist kein gewöhnlicher Traum.“
Er schaut an sich hinunter. Seine Gestalt ist geisterhaft, undefiniert. So, so kann er sich erinnern, sah auch sein Retter aus. War er also selbst sein eigener Retter?
Xenos schreckt hoch. Er befindet sich unter der alten Buche. Kumaru trainiert mit seinem Schwert. Die Abenddämmerung hat schon eingesetzt. War es doch nur ein Traum? Er zieht den weißen Bergkristall, welchen er von diesem mysteriösen Propheten bekommen hatte, von seiner Brust hervor. Doch der Kristall ist nicht mehr weiß. Er ist hellgrau.
Geschrieben von: | Mika |
Idee von: | Mika |
Korrekturgelesen von: | May |
Veröffentlicht am: | 01.06.2015 |
Zuletzt bearbeitet: | 17.04.2023 |