Kapitel 8 – Der Zeuge Bunas

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„Guten Morgen Xenos“, erklingt Kumarus helle Stimme.

Noch ziemlich müde, wacht Xenos auf. Der kleine Junge steht an seinem Bett und ist bereit, zum Training aufzubrechen. Er hat in den vergangenen Tagen wirklich viel gelernt.

„Gib mir ein paar Minuten und wir können los“, antwortet Xenos.

Kumaru nickt und verlässt das Zimmer.

Xenos greift an seine Brust und zieht den Bergkristall hervor. Er schaut ihn sich an. Der Kristall hatte sich vor einigen Tagen, während Xenos‘ mysteriösem Traum, hellgrau verfärbt. Immer wieder hatte er ihn sich in den letzten Tagen angeschaut. Seither hat er sich allerdings nicht verändert. Schnell zieht sich der Junge schließlich an und geht nach unten.

Unten wartet, wie auch in den Tagen zuvor, bereits Kumaru auf ihn. Sie wollen gerade aufbrechen, als plötzlich ein Planwagen den Hof erreicht. Panisch springt ein Mann aus dem Wagen. Er greift sich einen der Leute und fleht ihn an. Er sucht seinen Sohn. In dem Augenblick treffen sich bereits die Blicke von Kumaru und dem Mann.

„Papa“, identifiziert Kumaru den Mann aus dem Karren und rennt überglücklich zu ihm.

Sofort beginnt auch der Mann auf den Jungen zuzulaufen. Sie fallen sich in die Arme. Kumarus Vater beginnt vor Freude zu weinen. Er dachte, er hätte seinen Sohn in Buna verloren. Langsam treffen auch die anderen Wagen der Händlerfamilie ein.

Xenos ist klar, dass der Moment des Abschieds immer näher rückt. Er hat auf das Eintreffen der Familie gewartet. Kumaru weiß es noch nicht, doch er wird bei ihnen bleiben müssen. Xenos kann die Verantwortung nicht übernehmen. Er hätte Kumaru von Beginn an bei seinen Eltern bleiben lassen müssen.

Der kleine Junge hat seiner Familie eine Menge zu erzählen. Xenos zieht sich erst einmal zurück. Er begibt sich in den nahe gelegenen Wald. Er will etwas testen. Aus seiner Tasche holt er eine verzierte Holzbox. Aus ihr holt der Junge eine abgetrennte, halb mumifizierte Hand. Er legt sie vor sich auf den Boden und konzentriert sich. Plötzlich beginnt sie sich zu bewegen. Sie läuft auf ihren Fingern auf dem Boden herum. Vorsichtig lässt Xenos sie einige kleine Tricks ausführen.

An Händen von Toten haben die früheren Nekromantennovizen meist ihre ersten Erfahrungen gesammelt. Sie spielten gerne mit ihnen und lernten dabei ihre Kraft zu fokussieren. Auch Xenos spielt noch immer gern mit diesem alten Trainingsstück. Heimlich hatte er es einst aus dem Keller seines Hauses geholt. Doch das, worauf er gerade spekulierte, bleibt aus. Es gibt keinerlei Reaktion von dem kleinen Bergkristall um seinen Hals. Ihm wurde gesagt, dass sich der Kristall nur aktiviert, wenn Xenos droht die Kontrolle zu verlieren. Das ist bei der Hand natürlich nicht der Fall. Aber auch im Traum hatte er nicht das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Das erste Mal, dass er das Gefühl verspürte, dass seine Macht die Oberhand gewinnt, war in Buna.

Nach einer Weile begibt er sich zurück zum Gehöft. Als Kumaru ihn erblickt, kommt er sofort auf ihn zu und zieht seinen Vater hinter sich her.

„Xenos, da bist du ja wieder!“

„Hallo Xenos“, begrüßt ihn der Händlersmann. „Vielen Dank, dass du so gut auf Kumaru geachtet hast. Es scheint ihm wirklich zu gefallen bei dir.“

Dem Jungen ist klar, dass jetzt der Moment gekommen ist, an dem er sein Anliegen vorbringen muss. Er konnte es Kumaru bisher nicht erzählen. Doch jetzt muss er es tun.

„Ich habe mein Bestes gegeben, auf Kumaru zu achten. Leider reicht das aber womöglich nicht aus.“ Xenos stockt kurz: „Ich bitte Euch daher, Kumaru wieder in Eure Obhut geben zu dürfen. Ich kann dieses Risiko nicht verantworten.“

Kumaru und sein Vater schauen erstaunt. Der kleine Junge realisiert, was Xenos‘ Worte für ihn bedeuten.

Seine Stimme zittert: „Aber Xenos, du wolltest mir doch so viel beibringen. Du hast es versprochen!“

Vorwurfsvoll klingen Kumarus Worte in Xenos‘ Ohren.

„Das habe ich wohl.“, stimmt Xenos zu und erinnert sich an die Worte aus dem Brief. „Ich habe jedoch die Befürchtung, dass die Situation sich nicht bessern wird. Die Welt wird noch viel gefährlicher werden, wo ich hingehe. Ich kann dich beim besten Willen nicht diesen Gefahren aussetzen.“

Über Kumarus Wangen rinnen die Tränen.

„Ich habe dir in den letzten Tagen die Grundtechniken des Schwertkampfes gelehrt. Mit diesen solltest du deiner Familie eine große Hilfe sein können. Wenn du weiter fleißig übst, wirst du noch viel stärker werden. Und eines Tages werden wir uns wieder begegnen. Das verspreche ich.“

Kumarus Schluchzen wird weniger. Es ist still.

Dann erhebt sein Vater die Stimme: „Nun, wenn du das so siehst, dann werden wir Kumaru wieder zu uns nehmen. Wir wollen dich mit ihm nicht unnötig belasten. Tut uns leid.“

„Keinesfalls! Er belastet mich nicht. Im Gegenteil. Er war mir sogar eine große Hilfe. Er ist ein mutiger Junge und ein guter Freund. Gerne wäre ich mit ihm weitergereist. Es liegt wirklich rein an der Gefahr, der ich ihn nicht aussetzen möchte.“

„Ach so ist das“, versteht der Händler. „Das ist wirklich edel von dir. Du erkennst, was das Beste für andere ist und stellst dies noch über deine eigenen Bedürfnisse.“

Nun meldet sich Kumaru: „Vielen Dank für alles Xenos. Ich werde immer stärker werden! Und wenn wir uns eines Tages wiedersehen, wirst du erstaunt sein, wie viel ich gelernt habe. Ich werde dich trotzdem vermissen.“

„Ich glaube an dich“, spricht Xenos ihm Kraft zu.

Nach dem Mittag macht sich Xenos auf den Weg. Er ist fest entschlossen, die verlorene Zeit bestmöglich wieder aufzuholen. Noch heute will er in Erzhohn ankommen. Und schon übermorgen in Juselia sein. Das ist wirklich eine lange Strecke. Er treibt sein Pferd an und verschwindet im Wald. Kumaru und sein Vater winken ihm noch nach.

„Mach es gu, Kumaru, und pass auf dich auf“, ruft Xenos zu ihnen zurück.

Nur wenige Minuten vom Hof entfernt, taucht plötzlich ein Mann vor Xenos auf dem Waldweg auf. Der Junge hat Mühe, den Unbekannten nicht umzureiten. Das Pferd schert aus und kommt zum Stehen. Er ist genervt. Für so etwas hat er keine Zeit mehr. Er müsste so schon schneller reiten als er kann, um sein Ziel nach seinem Zeitplan zu erreichen. Dann kann Xenos den Fremden näher einordnen. Er gehört zur Wache Buna.

Xenos setzt vom Pferd ab: „Was macht Ihr hier draußen?“

„Ich habe dich gesehen“, konfrontiert ihn der Soldat.

„Wo habt Ihr mich gesehen?“, fragt Xenos nach.

„Ich habe dich gesehen, wie du in Buna schwarze Magie verwendetest“, grinst der Mann böse.

„Das ist schlecht“, denkt sich Xenos: „Sollte es wahr sein, was dieser Mann sagt, kann ich ihn nicht am Leben lassen. Mein eigenes steht auf dem Spiel. Es gibt noch immer Jäger, die nach Leuten wie mir suchen.“

Er wird unterbrochen: „Gib mir all dein Geld und das Pferd und ich werde nichts sagen.“

Die beiden starren sich an.

„Was genau soll ich denn getan haben?“, will Xenos wissen.

„Du hast widerwärtigerweise die Toten zu deinen Sklaven gemacht und sie wie Werkzeuge in den Kampf geschickt“, spuckt ihm der Soldat vor die Füße. „Ich habe sogar Beweise und eines dieser Monster gefangen.“

Xenos spürt, dass er die Wahrheit sagt. Er spürt seinen Untoten.

Der Junge deutet auf ein Gebüsch am Wegesrand: „Dort drüben ist es, habe ich recht?“

Der Mann schreckt zurück. Dann beherrscht er sich jedoch wieder: „Genau! Also los, gib mir dein Geld, du dummer kleiner Junge!“

Plötzlich weicht Xenos zurück. Er erinnert sich an seine Folter. Er ist ein dummer kleiner Junge. Immer wieder hat er diese Worte zu hören bekommen. Lange hat er sich genau so gesehen. Doch das ist er nicht mehr. Und er kann diese Worte nicht mehr hören!

Xenos grinst finster: „So seht Ihr mich? Ja, ich war ein dummer kleiner Junge! Mein früheres Ich war schwach und erbärmlich. Aber nun bin ich stark. Stärker und mächtiger als je zuvor! Ich werde mich niemals mehr beugen. Nein! Es gibt keinen Grund mehr dazu. Und das verdanke ich nur den Kräften, die Ihr als so widerlich erachtet. Sie sind ein Segen und kein Fluch. Mit Freuden werde ich es Euch beweisen.“

Xenos‘ böser Blick brennt sich in das Gedächtnis des Mannes. Dieser weicht angsterfüllt zurück.

„Wart Ihr Euch sich sicher, dass Ihr mich erpressen wolltet? Ihr habt doch selbst gesehen, wozu ich in der Lage bin. Ziemlich töricht und dumm“, schüttelt Xenos den Kopf. „Concursores fluctus!“

Der Wachmann wird zurückgeschleudert. Dieser zieht sein Schwert. Zitternd geht er in Kampfposition. Ihm wird klar, welch schweren Fehler er begangen hat: einen Magier herauszufordern und dazu noch einen Nekromanten. Er hat sich davon blenden lassen, dass es sich um ein Kind handelt. Dann schaut er nach hinten. Er überlegt einfach zu rennen, in der Hoffnung zu entkommen.

Doch Xenos unterbricht ihn: „Nun denkt nur nicht an Flucht, mein Herr. Ich kann Euch nämlich nicht mehr fliehen lassen. Ihr wisst zuviel. Ihr habt es doch gesehen. Zu groß ist das Risiko, dass ihr mich verratet.“

Die Umgebung ist von der bösen Aura förmlich erfüllt. Der Wachmann spürt sie deutlich. Die klaren, grausamen Worte des Jungen verunsichern ihn. Er wird nicht entkommen. Nicht kampflos. Schließlich stürmt er direkt auf Xenos zu.

Dem Jungen fällt es leicht, seinem durch blinde Verzweiflung geleiteten Angriff auszuweichen. Sofort unternimmt der Wachmann einen zweiten Versuch.

„Concursores fluctus“, ruft Xenos ihm entgegen.

Die Wache Bunas wird zurückgeschleudert. Er landet neben dem Gebüsch, in welchem er den Untoten versteckt hat.

„Befreie dich, mein Untergebener“, spricht Xenos mit unheimlicher Stimme.

Der an Händen und Füßen gefesselte Tote windet sich. Schließlich lösen sich die Fesseln. Mit einem Zug reißt er sich den Knebel aus dem Mund und reißt damit einen Teil seines Gesichtes mit ab. Er stöhnt auf.

Ohne zu zögern gibt Xenos neue Befehle: „Greife diesen Bastard an und töte ihn!“

Langsam wankt der Untote auf den Mann zu. Dieser springt auf und weicht vor dem Monster zurück. Er fuchtelt mit seinem Schwert wild herum. Seine Angst ist unermesslich. Er sieht dem Tod wahrhaftig in die Augen. Schließlich gelingt es dem Toten in dem Gerangel, den Arm des Soldaten zu greifen und zuzubeißen. Die Wache schreit schmerzverzerrt auf und schafft es mit einem weiteren Schlag, den festgebissenen Diener des Bösen zu enthaupten.

Nun entscheidet er sich doch zu rennen und versucht zu fliehen. So schnell wie möglich will er weg von diesem verrückten Jungen.

Doch dieser lässt ihn nicht mehr entkommen: „Sei ein Teil meines Grabes der Toten!“

Der Boden wird weich, nahezu sumpfig. Aus ihm erheben sich halb skelettierte Hände und greifen nach den Füßen des Mannes. Er fällt mit seinen Händen in den Morast. Sofort werden auch diese ergriffen. Langsam geht Xenos auf ihn zu, während die Hände ihn immer weiter zu sich in den Boden hineinziehen.

Verzweifelt versucht sich die Wache Bunas zu befreien und beginnt zu flehen: „Bitte nicht! Ich bitte dich, Junge. Ich habe eine Frau und Kinder. Verschone mich. Bitte! Ich brauchte das Geld. Ich möchte nur zu ihnen nach Hause. Es tut mir leid. Ich werde niemandem davon erzählen. Ich schwöre es! Bitte, ich flehe dich an. Ich werde alles für dich tun, wenn du mich verschonst!“

Unbarmherzig und kalt schaut der Nekromant auf den Mann hinab und antwortet zynisch: „Alles für mich tun werdet ihr wohl so oder so. Immerhin werdet Ihr mir von nun an als willenloser Untoter dienen und jeden Wunsch erfüllen.“

Immer schneller sinkt die Wache unter die Erde. Sie ist so gut wie verschwunden, bevor sie unter einem entsetzlichen letzten Schrei im Boden verstummt. Schon festigt sich der Boden wieder und das Grab der Toten verschwindet.

Plötzlich beginnt der Bergkristall zu leuchten. Erneut wird Xenos in ein gleißend helles Licht gehüllt. Xenos holt den Kristall hervor. Er hat sich aktiviert und ist nun noch dunkler als zuvor. Xenos‘ Wesen festigt sich erneut. Es ist als könnte er wieder klar sehen. Nun versteht er, wovor sein Kristall ihn schützt. Nicht nur an der Grenze des Wahnsinns greift der Stein ein. Schon sobald Xenos‘ Verhalten negativ von seinen Kräften beeinflusst wird, interveniert das Artefakt. Es aktiviert sich ziemlich früh und bremst ihn aus. Er ist sich nicht sicher, was er von diesem Schmuck wirklich halten soll.

Nachdenklich setzt sich Xenos wieder auf sein Pferd und verlässt das Kampffeld. Er treibt es an, schnell vorwärts zu kommen. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, reitet er davon. Er hat heute noch ein weit entferntes Ziel zu erreichen.


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 01.07.2015
Zuletzt bearbeitet: 02.10.2019
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