Kapitel 20 – Offenbarungen

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Ohne Elias sprintet die kleine Gruppe weiter durch die Flure des Schlosses. Nach kurzer Zeit besinnt sich auch Guren wieder. Sie windet sich nicht weiter in ihrem Rankengefängnis. Zara setzt sie ab. Die rothaarige Frau erinnert sich nur schemenhaft. Azarni und Zara helfen ihr sich zu befreien, während Jofra, der hinter den anderen herläuft, plötzlich umkehrt.

„Was ist los? Wo willst du hin?“, fragt ihn Nekomaru.

„Hört ihr das?“, fragt der Negonier mit monotoner Stimme. „Da ruft jemand.“

Alle beginnen auf die Geräusche zu achten. Es ist still. Immer weiter entfernt sich Jofra und folgt dem Gang zurück zu der vermeintlich rufenden Stimme. Seine Füße beginnen sich in Nebel zu hüllen. Am Anfang des Ganges erscheint ein kleines, formloses Licht. Nekomaru realisiert sofort, was hier passiert. Er sprintet los, um Jofra einzuholen, und zieht ihn am Kragen zurück.

„Jetzt habe ich es auch gehört“, meint Azarni in ebenso monotoner Stimmlage. „Es kommt dort drüben aus der Tür.“

„Das ist eine weitere Falle“, meint Nekomaru. „Diese Stimmen, diese Lichter und der Nebel. Das ist die Dämonenlaterne! Wenn ihr ihr verfallt, führt sie euch in den Tod. Wir müssen weiter. Sie versuchen nur uns aufzuhalten. Wir dürfen nicht zu spät kommen.“

Zara hält ihre Herrin zurück, die sich zu einer der Türen aufgemacht hat. Azarni und Jofra besinnen sich. Gemeinsam verschwinden sie schnellen Fußes von hier und biegen in den nächsten Flur.

Am anderen Ende steht ein weißhaariger Junge, in weißem Gewand, mit grauen, leeren Augen. In seiner Hand hält er eine lodernde Laterne. Es ist Lucien, das Dämonenkind von Nor’amuth, des Fürsten über Leben und Tod und Wächter der Pforte.

„Das letzte Mal konntest du an mir vorbeikommen. Dieses Mal mache ich es dir nicht so einfach“, meint Lucien mit ruhiger Stimme. „Dieses Mal beginne ich.“

Aus den geschlossenen Türen links und rechts des Ganges treten ihnen Geister entgegen. Die Gruppe macht sich kampfbereit. Langsam, in aller Ruhe, schlurfen ihnen die Untoten entgegen.

Nekomaru teilt sein Wissen: „Das sind keine normalen Geister. Es sind Untote, die zwischen unserer Welt und dem Reich der Toten wechseln. Nur wenn sie sich manifestieren, in dem Augenblick, in dem sie angreifen, können wir ihnen schaden. Dann erhalten sie einen festen Körper.“

„Geisterfeuer“, antwortet Zara.

Nekomaru schaut sie verwirrt an.

„Es ist eine spezielle Zubereitung auf Basis von Alchemistenfeuer. Elias hat mir alles besorgt, was ich benötige, um Alchemistenfeuer zu mischen. Das habe ich vorhin in der Zelle bereits zubereitet. Wenn wir aus den Geistern Ektoplasma gewinnen können, kann ich mit dem Puder Geisterfeuer anmischen. Das ist eine Flüssigkeit, die, wenn man sie entzündet, blaue Flammen erzeugt, die sowohl in unserer Welt als auch im Reich der Toten brennen.“

„Wir brauchen also nur einen von ihnen zu töten“, meint Guren.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortet Nekomaru. „Haben sie sich manifestiert, sind sie scheinbar keine Geister mehr, sondern gewöhnliche Untote.“

„Lasst es uns versuchen“, erwidert Guren und stürmt los.

Die rothaarige Frau stellt sich vor die Geister und wartet auf den Moment, in dem sie nach ihr greifen. Als der erste seine Hand ausstreckt, schwingt sie ihr Katana. Guren gleitet durch die Luft.

„Das war zu früh“, ruft Nekomaru und stürmt los.

In diesem Augenblick manifestieren sich die Geister um Guren und greifen nach ihren Gliedmaßen. Sie versucht zurückzuweichen, doch wird bereits in die Masse an Untoten gezogen. Sie verschwindet in ihnen. Sofort setzt Nekomaru einen Hieb seiner Sense in die Menge, doch für diesen Moment werden die Geister wieder durchlässig. Man sieht, wie sie im Inneren der Menge an Guren ziehen und reißen. Hinter Nekomaru kommen Zara und Azarni angelaufen. Die Köchin wühlt in einem der Beutel und pustet schließlich eine Handvoll goldgleichen Staubes nach vorn. Langsam regnet der Staub auf Nekomaru, die Geister und Guren nieder. Die Untoten jaulen auf und lassen ihre Gefangene frei. Auch Nekomaru lässt seine Sense fallen, fasst sich auf Kopf und Schultern und sinkt vor Schmerz zu Boden.

„Das brennt!“, schreit der Blondhaarige auf. „Was ist das?“

Azarni beugt sich zu ihm hinab und legt eine Hand auf den Jungen. Langsam lässt das unangenehme Gefühl an den Stellen, die mit dem Puder in Berührung gekommen sind, nach. Guren atmet unterdessen auf. Auch sie wurde von dem Staub benetzt, spürt jedoch nichts.

„Tut mir leid“, reagiert Zara aufgewühlt. „Wir mussten handeln. Da habe ich nicht nachgedacht. Das ist Puder aus Sankt-Benedikt-Kraut. Die Pflanze ist heilig und das Puder wirkt daher ähnlich wie Weihwasser.“

Zara fühlt sich schlecht, während sich Nekomaru langsam wieder aufrafft. Sie hatte vergessen, dass ihr Angriff den Jungen ebenfalls verletzt. Durch seine Abstammung als Dämonenkind reagiert er ähnlich empfindlich auf heilige Reliquien oder Magie wie ein Wesen aus dem Reich der Toten, wenngleich nicht ganz so stark.

Plötzlich greift einer der Geister aus der Wand nach Zara. Mit einem Hieb schlägt Guren nach den auftauchenden Händen. Dieses Mal war es der richtige Moment. Zwar versucht der Untote noch rechtzeitig in seine Geisterform zurückzugelangen, aber es gelingt der Händlerin, ihm die Hände abzuschlagen. Mit diesen fällt ein wenig leicht bläulich schimmernde, durchsichtige Flüssigkeit zu Boden.
Sofort beugt sich Zara hinab: „Das ist es. Ektoplasma.“

Sie beginnt die schleimartige Flüssigkeit aus einer anderen Welt in einen weiteren Komponentensack zu füllen. Anschließend mischt sie den Inhalt. Währenddessen tauchen bei Lucien allerdings drei weitere Geister auf.

„Das sind aber nicht deine Eltern, wie beim letzten Mal“, verspottet ihn Nekomaru.

Mit ruhiger Stimme antwortet Lucien: „Meine Eltern muss ich mir zurückverdienen. Nachdem ich dich entkommen ließ, nahm sie Livis gefangen, um mich zu bestrafen. Wegen dir leiden sie nun im Reich der Toten. Doch sobald ich dieses Mal über euch triumphiert habe, bekomme ich sie sicher zurück. Solange sind diese drei Nebraa meine Trumpfkarte. Lamilia war so freundlich, sie mir zur Verfügung zu stellen.“

Azarnis Blick fällt auf die drei Geister vor dem Jungen. Eine Frau, ein Mann in schwarzer Robe sowie ein Kind von ungefähr acht Jahren. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei ihnen um die Eltern und Yuki, den Bruder von Lamilia, handelt. Sie bildeten die ehemalige Herrschaftsfamilie über das Blutquelltal.

„Tötet sie“, befiehlt ihnen Lucien.

Die drei wandeln auf die Gruppe zu. Ihr Blick ist dabei an Azarni gebunden.

Als die Geister nahe genug sind, beginnt die Frau zu flüstern: „Du bist eine Nebraa. Wir wollen dir nichts tun, doch wir werden gezwungen. Befreie uns aus der Kontrolle dieses Kindes.“

„Wie?“, fragt Azarni leise.

„Ahnengeist“, meint der Mann.

Azarni schüttelt den Kopf: „Das ist ein nekromantischer Zauber. Ich kann diese Magie nicht nutzen.“

„Es steckt in deinem Blut“, meint Yuki zuversichtlich.

„Mein Sohn hat es geerbt. Ich aber nicht.“

„Zurück“, ruft Zara.

Als die Geister bereits nahe an der Gruppe sind, zieht die Köchin eine Linie vor ihnen aus der neuen Geisterfeuermixtur und entzündet sie. Blaue, kalte Flammen schießen empor. Ängstlich weichen die drei Geister zurück.

„Umgeht das Feuer und greift endlich an“, befiehlt Lucien aus dem Hintergrund erneut.

„Sucht einen anderen Weg“, meint Zara zu ihrer Gruppe. „Ich verschaffe euch Zeit.“

Guren, Nekomaru und Jofra nicken und laufen davon. Auch Azarni schließt sich ihnen an.

Ein letztes Mal wendet sie sich zu den Geistern: „Haltet durch. Mein Sohn wird euch bald befreien.“

„Nein!“, ruft Lucien den Flüchtenden wütend nach.

Tatsächlich gelingt es den anderen, durch das Gewirr der Flure einen anderen Weg in die dritte Etage zu finden. Wieder arbeiten sie sich vorsichtig, doch bestimmt Richtung Turm vor. Noch eine Etage wird es nicht geben. Nun müssen sie nur noch die Treppe hinauf in den alten Turm finden.

In einem leergeräumten Bankettsaal werden sie schließlich fündig. Am anderen Ende der Halle ist der Aufgang in den runden Turm. Doch bevor sie auf der anderen Seite ankommen, öffnet sich die im runden Mauerwerk eingelassene Tür. Erleichtert atmen sie auf, als Xenos ihnen gegenübertritt. Wie die Geister bei Lucien trägt er einen schwarzen Umhang, der von den Schultern bis zu den Füßen reicht. Gesäumt wird er mit edlem weißen Stoff. Darunter trägt der Junge ein schwarzes Hemd und eine lange, dunkle Hose. Zusammen mit der Kette um seinen Hals, die das Wappen der Familie Nebraa zeigt, ergibt es die alte, traditionelle Tracht, die vor den Nekromantenverfolgungen einst alle ehrwürdigen Nekromanten der Familie trugen. In seinen Händen hält Xenos ein Schwert. Es passt nicht zum Rest seines Auftretens. Es wirkt klobig und viel zu groß in den Händen eines Elfjährigen. Scheinbar dient es ihm als Ersatz für das Dämonenschwert, was ihm damals entwendet wurde.

Azarni ist den Tränen nahe, ihren Sohn so zu sehen. Nicht sein Auftreten macht sie traurig, sondern der Gedanke daran, dass er bereit zum Kampf auf Leben und Tod vor sie getreten ist. Ihr eigener Sohn wird gezwungen, gegen sie zu kämpfen. Ihr bleibt jedoch nicht viel mehr Zeit darüber nachzudenken, als sich die Seitentür des Saales öffnet. Eine Horde Untoter drückt sich durch die zweiflügelige Tür.

„Ich kümmere mich darum“, meint Guren und stürmt auf die Monster zu.

Jofra dreht sich zu Nekomaru und Azarni: „Das ist er, richtig? Wenn wir ihn mit dem Ritual befreien wollen, müssen wir ihn fixieren. Er muss stillhalten, damit ich die Formel sprechen kann.“

Die Beiden nicken. Sofort stürmt Nekomaru auf Xenos zu. Jofra folgt ihm. Unmittelbar nachdem sich der Blondhaarige in Xenos‘ Reichweite befindet, prallen Schwert und Sense mit ungeheurer Wucht aufeinander.

„Ihr hättet niemals kommen dürfen“, spricht Xenos mit böser Stimme.

„Dann hättest du es uns nicht so leicht machen sollen dich zu finden“, meint Nekomaru zynisch. „Die ganze Region weiß bereits, dass sich hier ein Nekromant aufhält. Was hast du dir dabei gedacht?“

Ihre Waffen prallen erneut aufeinander. Aus Azarnis Richtung kommt ein Feuerball geflogen. Xenos ignoriert ihn. Dicht neben ihm fliegt er vorbei. Seine Mutter hatte nicht direkt auf ihn gezielt. Sie konnte es einfach nicht. Der Zauber sollte den Jungen nur ablenken. Wieder schlägt Xenos mit seinem Schwert zu.

„Die Welt kann meine wahre Natur nun ruhig erfahren. Bald schon wird Atra-Regnum uns gehören. Dann muss ich mich nicht mehr verstecken. Die Dämonenfürsten beginnen bereits mit ihrem großen Angriff auf diese Welt. Niemand wird sie aufhalten. Ihr solltet euch ihnen beugen. Dann überlebt ihr vielleicht.“

Nekomaru ignoriert Xenos‘ Worte: „Ist dir bereits aufgefallen, dass dich das Schwert eher einschränkt, als es dir hilft? Es ist viel zu schwer. Es macht dich langsam und verwundbar.“

Nach diesen Worten beschleunigt Nekomaru seine Angriffe. Er vermeidet die direkte Konfrontation, auf die Xenos aus ist. Schnell zieht er immer und immer wieder links und rechts an Xenos vorbei. Dieser strengt sich an, den Bewegungen des Blondhaarigen zu folgen, doch sein Schwert verlangsamt ihn tatsächlich. Schließlich gelingt es Nekomaru, mit dem Schaft seiner Sense in Xenos‘ Kniekehlen zu schlagen. Der Junge sackt zusammen und lässt sein Schwert fallen. Sofort wirft Nekomaru sich hinter ihn und fixiert seine Hände.

„Jetzt, Jofra!“, ruft Nekomaru.

Jofra macht sich bereit für das Ritual, als Xenos seinen Zauber Grab der Toten direkt unter sich wirkt. Sowohl er als auch Nekomaru beginnen im entstehenden, schlammigen Boden einzusinken.

„Du verschlingst dich selbst, um mich zu töten?“, fragt Nekomaru.

Xenos lacht: „Du wirst sterben. Ich werde leben. Weißt du was das Gute an Falkenbach ist? Jeder Nekromant hat eine Ebene außerhalb dieser Welt, dicht mit dem Totenreich verbunden. Sie ist ähnlich den Ebenen, die die Dämonen nutzen, um Tore in die Welt der Lebenden zu erschaffen. Wir Nekromanten nutzen diese Ebene, um unsere Untoten auf ihr zu sammeln. Auf dieser landen also unter anderem alle, die in meinem Grab der Toten versinken. Sie werden von den anderen dort hausenden Kreaturen getötet oder verenden irgendwann. Es gibt nämlich keinen Ausgang. – Es sei denn, man ist der Nekromant dem die Ebene gehört. Unter diesen Umständen kann er einfach zwischen beiden Realitäten wechseln und erscheint an dem Ort wieder, den die Ebene abbildet. Was für ein Glück, dass mir Lamilia verraten konnte, dass meine Ebene die Region Falkenbach spiegelt.“

Xenos lacht zufrieden, während die Beiden bereits halb versunken sind. Nekomaru lässt ihn los und versucht aus dem Sog zu entkommen. Jofra und Azarni eilen herbei. Gemeinsam, unter dem Einsatz all ihrer Kräfte, gelingt es ihnen, Nekomaru zu befreien. Sie fallen zurück, während Xenos immer weiter verschwindet.

„Lasst ihn nicht entkommen“, ruft Guren, die noch immer gegen den nicht aufhören wollenden Strom an Untoten ankämpft. „Wenn er erst in seiner Ebene ist, könnte er doch dann überall in der Umgebung wieder auftauchen.“

Bis zum Bauch ist der Nekromant bereits versunken. Seine Arme stecken fest. Azarni stellt sich wieder auf und atmet ein. Sie spricht einen mächtigen Zauber und die Temperatur im Raum fällt schlagartig unter den Gefrierpunkt. Die eindringenden Untoten erstarren zu Eis und auch der Schlamm vom Grab der Toten verfestigt sich und gefriert.

„Nein!“, ruft Xenos und versucht sich zu befreien.

Sofort weiß Jofra, was zu tun ist. Er stellt sich vor Xenos und startet das Ritual. Er bündelt seine Konzentration und ruft seine Erinnerungen hervor. Dann beginnt er einen Text zu rezitieren und sich in Trance zu reden. Xenos atmet schwer. Seine Atmung beschleunigt sich. Er beginnt zu krampfen und schließlich zu schreien. Er schreit immer lauter. Es sind Schmerzensschreie. Der Junge windet sich. Azarni rückt auf die gefrorene Fläche zu ihrem Sohn. Sie berührt ihn, versucht ihm beizustehen. Xenos fühlt sich heiß an. Er glüht. Seine Haut beginnt Verbrennungen aufzuweisen. Auch Nekomarus Atmung neben dem Ritual wird schwerer und intensiver. Seinen Körper durchfährt Schmerz. Er sinkt zu Boden. Guren blickt auf die beiden Jungen. Sie schüttelt den Kopf.

„Ist das normal?“, fragt sie Jofra.

Er verneint dies: „Aber wir müssen fortfahren, um den Vampirismus auszutreiben.“

Auch Azarni wird stutzig. Die verbrannte Haut beginnt sich von ihrem schreienden Sohn zu schälen. Auch Nekomaru leidet Schmerzen.

„Das Ritual ist heilig, richtig?“, fragt Guren.

Jofra nickt. Guren wird klar, was geschieht. Sie eilt hinüber.

„Hör auf, hör sofort auf!“, ruft sie. „Du wirst ihn töten.“

„Wir können nicht aufhören. Um die Welt vom Bösen zu läutern, müssen manchmal auch Opfer in Kauf genommen werden.“

Guren beginnt an dem jungen Negonier zu zerren. Dieser stoppt das Ritual jedoch nicht. In Azarnis Ohren klingen Jofras Worte wider. Sie erhebt sich und kommt auf ihn zu.

Azarni fleht ihn an: „Brich bitte ab! Das ist mein Sohn!“

Noch immer hält Jofra seine Konzentration aufrecht. Nun holt Guren aus. Sie ballt eine Faust und schlägt ihm ins Gesicht. Der braunhaarige Junge fliegt zur Seite und unterbricht die Rezitation. Das Schreien von Xenos stoppt. Er verliert das Bewusstsein. Auch Nekomaru erholt sich langsam. Azarni geht zu ihrem Sohn. Seine Haut ist komplett verbrannt. Sie legt eine Hand auf den Jungen. Nach und nach schließen sich die offenen Wunden.

„Kann es sein, dass Xenos auch ein Dämonenkind ist?“, fragt Guren. „Er ist genauso empfindlich gegen heilige Magie wie Nekomaru. Sie haben die gleichen Symptome gezeigt.“

Azarni schüttelt den Kopf: „Nein, das glaube ich nicht.“

„Dann haben wir nur noch die Möglichkeit, Lamilia mit dem Dolch zu töten“, meint Nekomaru.

In diesem Moment öffnet Xenos wieder die Augen. Ein Wirbel aus schwarzem Rauch beginnt sich um ihn zu bilden. Seine Mutter weicht zurück.

Mit furchteinflößend böser Stimme beginnt er zu sprechen: „Oh doch, ich bin ein Dämonenkind. Und genau das gibt mir das Recht, mit all den anderen Dämonen über diese Welt zu herrschen. Ich war wirklich dumm, dass ich es nicht allein herausgefunden habe. Lamilia musste mich erst aufklären. Meine Schattenkontrolle ist nicht nekromantischen Ursprungs. Es ist die Gabe der Dämonenfürstin Umbra, der Fürstin der Schatten.“

Sofort breiten sich von Xenos zahlreiche Schatten im Raum aus. Sie rasen auf Guren und Azarni zu. Mit ihrem Katana gelingt es Guren jedoch, sie zurückzuschlagen. Schnell schließt Nekomaru zu den Beiden auf.

„Wir müssen Lamilia ausschalten“, ruft Azarni.

Immer weitere Schattenarme rasen auf die drei zu und drängen sie zurück. Azarni beschwört ein Eisschild.

Sie gibt Nekomaru den verzauberten Dolch: „Du schaffst es am ehesten an ihm vorbei. Wir halten hier aus. Bitte rette meinen Sohn!“

Einige der Angriffe prallen ab, bevor Azarnis Schild in kleinste Kristalle zerspringt. Diesen Moment nutzt Nekomaru und sprintet voran. Sofort fokussieren die Schatten ihn und gehen auf den Blondhaarigen nieder. Geschickt schafft er es, den rasiermesserscharfen Armen auszuweichen. Dennoch erleidet er kleinere Schnitte, die seine Kleidung mit seinem Blut einfärben. Parallel starten Guren und Azarni einen Gegenangriff. Sie versuchen näher an Xenos heranzukommen, was ihn zwingt, auch diesen Beiden Aufmerksamkeit zu schenken. Dies erlaubt Nekomaru schließlich, mit einem letzten gekonnten Satz hinter der Tür im Turm zu verschwinden.

Der kleine Dämonenjunge folgt der alten Wendeltreppe den Turm hinauf bis zur Spitze. Er öffnet eine hölzerne Falltür und tritt in ein wohl ausgestattetes Schlafgemach im Dach des steinernen Turms. Sofort trifft sich sein Blick mit dem des schwarzhaarigen Mädchens, welches neben dem Bett in einem Ritualkreis kniet.

Lamilia streckt ihm die Arme entgegen: „Bitte Nekomaru, überleg es dir nochmal. Selbst wenn du mich jetzt tötest, wirst du die Welt nicht retten können. Die Großoffensive der Dämonenfürsten, unter Sangra geeint, hat bereits begonnen. Die kleinen Angriffe auf eure Welt, wie unter Heres, sind vorbei. Weite Teile des Kernlandes des Radonum Forstes sind bereits unter ihrer Kontrolle. Kadesh ist dabei, Inekoria und das gesamte Ostkaiserreich einzunehmen. Sobald diese Gebiete unter ihrer Kontrolle sind, folgen das Zentral- und Südkaiserreich, bevor es schließlich auch die Sudame und Elfen trifft. Es wird nicht mehr Jahre dauern. Die Vorbereitungen sind beendet. In wenigen Monaten wird eure Welt in ihren Händen sein.“

Mit dem Dolch in der Hand schreitet Nekomaru auf Lamilia zu.

„Du bist einer von uns. Du bist ein Dämonenkind“, redet sie weiter auf den Jungen ein. „Du hast einen Anspruch, mit uns diese Welt zu regieren. Dir allein könnte ein Teil davon gehören. Du und Xenos könntet wieder Freunde werden.“

Ohne auch nur einen weiteren Satz dieser gehassten kleinen Vampirin abzuwarten, rammt ihr Nekomaru den Dolch ins Herz. Sie sinkt zu Boden und eine warme Blutlache bildet sich unter ihr. Der Junge setzt sich neben sie, den in ihr steckenden Dolch noch immer fest umklammernd. Panik zeichnet ihr Gesicht. Sie ringt nach Luft. Nekomaru fühlt sich gut. Ein weiteres Mal hat er gemordet. Ein weiteres Mal genießt er dieses Gefühl. Doch kein anderer Mord hat ihn je so befriedigt wie der Mord an Lamilia.

Blut hustend, stammelt Lamilia ihre letzten Worte: „Ich hätte wissen müssen, dass man den Sohn des Dämonenfürsten des Wahnsinns, der Lügen und der Intrigen nicht überzeugen kann. Er ist genauso verrückt und unberechenbar wie sein Vater.“

In Nekomaru entsteht ein furchtbar unangenehmes Gefühl, als Lamilia diese Worte ausspricht. Er will nicht wahrhaben, was sie sagt. Sein Vater hat ihn bereits einmal angelogen. Seine Welt zerbrach zu Scherben. Dieser Moment fühlt sich ganz ähnlich an. Der kleine Junge, dessen Leben als Dämon bereits eine Lüge war, kann und will dies nicht glauben.

Er beugt sich über sie: „Mein Papa ist Heres.“

„Falsch“, antwortet Lamilia und schließt für immer ihre Augen.


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 01.12.2019
Zuletzt bearbeitet: 22.01.2023
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