Die Morgensonne strahlt auf die Straßen von Volar. In den Gassen herrscht reges Treiben. Vor dem Reisesigill stehen Xenos, Nekomaru und Noah. Bevor sie hierher kamen, besuchten sie noch einen der vielen Händler der Stadt, um Noah neue Kleidung zu besorgen. Sein Oberkörper ist nun von einer weiten, beigen Tunika bedeckt.
Xenos atmet durch und greift in seiner Tasche nach dem magischen Stein, der ihnen das Reisen über die Sigille ermöglicht: „Macht euch bereit. Wir bringen Noah nach Hause. Auf nach Inekoria!“
Er greift nach Nekomarus Hand. Dieser wiederum nimmt die von Noah. Sie treten in das Reisesigill und im nächsten Augenblick stehen die drei Kinder auf einem ganz anderen Platz in einer ganz fremden Stadt. Ihr Blick wandert über die altertümlichen Anlagen eines prunkvoll erhaltenen Tempels, der in Inekoria seit jeher das Stadtzentrum ist und auf dessen Innenhof sich die drei nun befinden.
Xenos und Nekomaru bewundern die alte Architektur mit ihren bis ins letzte Detail gestalteten und bemalten Säulen, die mit viel Hingabe verzierten Geländer der vorgebauten Terrassen, die in allen Größen zu findenden Statuen und Malereien von Katzen und die imposanten, schwunghaft auslaufenden Fußwalmdächer. Man sieht diesem Ort die Geschichtsträchtigkeit wahrhaft an.
„So weit östlich im Kaiserreich bin ich das erste Mal“, äußert Xenos, „was die ersten Siedler Atra-Regnums geschaffen haben ist wirklich beeindruckend.“
Noah nickt: „Hier zu leben erfüllt einen mit Stolz. Wir pflegen, was uns die ersten Siedler hinterlassen haben. Sowohl materiell als auch immateriell, was Wissen, Traditionen, Bräuche und Glauben einschließt. Auf dass es noch tausend Jahre überdauern wird.“
„Wenn man einmal hier war, sieht man, wie sich Atra-Regnum seitdem verändert hat. Doch man sieht auch, dass es sich bis heute nicht grundlegend verändert hat.“
Noah bestätigt ihn: „Die Kenntnisse der ersten Siedler sind eben doch noch nicht komplett veraltet. In manchen Gebieten verwenden wir bis heute ihre Techniken. Unsere großen Schiffe werden immer noch so gebaut wie die riesigen, Schiffe mit denen die Siedler damals hier angelandet sind.“
Nekomaru interessiert sich wenig für die Geschichte hinter diesem Ort. Sein Blick bleibt an einer der großen bemalten Katzenstatuen aus Sandstein hängen. Völlig gefesselt von ihrer auf den Jungen wirkenden Anziehungskraft, bewegt er sich langsam auf sie zu und streicht mit seiner kleinen Hand über die große, glatt geschliffene Tatze.
Gefällt dir die große Niji“, lächelt ihn von der Seite ein Mädchen in seinem Alter mit langen schwarzen Haaren an.
Sie ist in ein altes traditionelles Schreingewand gekleidet und trägt als Kopfschmuck einen verzierten Reif mit ziemlich echt wirkenden dunklen Katzenohren.
Nekomaru nickt verlegen.
„Ich bin Kurojoshi Taneko, Hohepriesterin dieses Tempels“, verbeugt sich das Mädchen leicht. „Wie darf ich dich nennen?“
„Nekomaru. Mein Name ist Nekomaru. Hier ist alles voller Katzen. Gehört dieser Ort zum Kult von Shedu?“
„So ist es. Einst gab es hier nur einen Schrein zu Ehren des Schutzdämons Shedu. Die Dämonenfürstin der Katzen war immer nachsichtig mit uns und half den Siedlern durch die harten Winter. So gewann sie immer mehr Anhänger und der Schrein zog mehr und mehr Leute an. Aus ihm wurde eine große Tempelanlage und um diese herum wuchs eine wahrhaft schöne Stadt.“
„Beeindruckend“, reagiert Nekomaru, „eine ganze Stadt, die sich freiwillig einem Dämonenfürsten unterwirft.“
Kurojoshi hebt einen Finger: „Man darf nicht immer alles nur schwarz und weiß sehen. Sie hilft uns und wir zeigen ihr dafür unsere Dankbarkeit. Ob diese Hilfe nun von einem Gott oder einem Dämonen kommt ist dabei doch vollkommen egal. Man sollte jede Hilfe zu schätzen wissen.“
Nekomaru stutzt: „Und für ihre Hilfe müsst ihr all ihre Gebote befolgen und nach eurem Tod bekommt sie eure Seelen.“
„Das stellst du aber ziemlich einseitig dar. Natürlich befolgen wir ihre Gebote, genauso wie andere Leute die Gebote ihrer Götter befolgen. Außerdem kehren wir alle irgendwann ins Reich der Toten ein. Da ist es doch wunderbar bereits einen Ort zu kennen, an dem man herzlich aufgenommen wird. Du scheinst nicht besonders offen für die Philosophie der Dämonen.“
„Ich? Nicht offen für Dämonen?“, reagiert Nekomaru schockiert und ist ein wenig beleidigt. „Das sagt sie zu mir“, denkt er sich, „dem, der sein ganzes Leben unter Dämonen verbracht hat. Ihre angebetete Shedu kenne ich doch sogar persönlich!“
Die Priesterin kichert: „Ich kann mich natürlich auch irren. Es ist jedenfalls schön, dich kennengelernt zu haben.“
„Ebenso“, verabschiedet sich Nekomaru, blickt noch einmal die große Katzenstatue hinauf und kehrt zu Xenos und Noah zurück.
„Kontakt mit anderen Menschen suchen“, spricht Xenos zu Nekomaru. „Das ist schon mal ein erster Schritt in die richtige Richtung.“
Dieser rollt mit den Augen.
„Wollen wir uns jetzt von Noah verabschieden?“
Nekomaru nickt.
„Es war schön euch kennengelernt zu haben“, äußert Noah, „aber es wird Zeit wieder zu meiner Familie zurückzukehren.“
Plötzlich fällt der Blick der drei und aller anderen Leute auf einen erschöpften und verletzten Mann, der auf die Hohepriesterin zuläuft, mit der Nekomaru eben gesprochen hat. Neugierig gehen Noah und Nekomaru, gefolgt von Xenos, ein Stück näher heran. Der Mann berichtet von einem erneuten Angriff von Wölfen beim Sägewerk im Bambuswald, vor den Toren der Stadt. Kurojoshi reagiert schockiert. Sie habe doch die Waldarbeiter in ihre Gebete eingeschlossen. Der Mann wird umgehend versorgt. Zurück bleiben die Hohepriesterin und besorgte Bürger.
Noah reagiert besorgt: „Mein Papa arbeitet im Sägewerk! Ich muss unbedingt sehen, ob es ihm gut geht.“
Xenos und Nekomaru verstehen Noahs Unruhe, wünschen ihm viel Glück und verabschieden sich.
„Halt“, ruft Noah den beiden nach, „k-könnt ihr mich nicht begleiten? Vielleicht muss ich zum Sägewerk. Ihr könnt kämpfen und die Wölfe zurückdrängen. Wenn nicht mal die Gebete der Hohepriesterin helfen …“
„… müssen wir uns eben persönlich darum kümmern“, beendet Kurojoshi Noahs Satz und legt ihre Hände auf die Schultern von Nekomaru und Xenos.
Erstaunt schauen alle auf das Mädchen.
„Wieso wir?“, will Xenos wissen.
„Ihr drei habt so etwas an euch. Etwas, das mich euch vertrauen lässt. Außerdem scheint ihr kämpfen zu können. Wie der weißhaarige Junge schon sagte, haben meine Gebete nichts bewirkt. Das heißt, es muss mehr dahinter stecken als ein paar Wölfe.“
„Wir haben keine Zeit für so etwas. Es gibt viel zu tun.“
Nekomaru beugt sich zu Xenos und flüstert ihm ins Ohr: „Es könnte aber interessant werden. Dieser Ort steht unter dem Schutz der Dämonenfürstin Shedu. Sie hat recht. Da muss mehr sein als nur Wölfe.“
Xenos zögert: „Na schön, wir begleiten euch zum Sägewerk, sehen nach und wenn wir keine Spuren finden, gehen wir wieder.“
Im dichten Bambuswald angekommen, ist es nicht weit bis zum Sägewerk. Noah und Kurojoshi gehen voran, dicht gefolgt von Xenos und Nekomaru.
„Das war eine dumme Idee“, zweifelt Xenos. „Ich habe mein Dämonenschwert nicht mehr und durch die beiden vor uns kann ich auch keine Nekromantie einsetzen. Sonderlich viele Fähigkeiten bleiben dann nicht mehr übrig.“
„Überlass das nur mir. Ich habe meine Sense und kann uns alle decken. Notfalls kannst du ja trotzdem Nekromantie benutzen und wir entsorgen Noah und Kurojoshi hinterher.“
Xenos schüttelt den Kopf: „Die Priesterin werden wir vielleicht los, aber Noah muss überleben. Er ist immerhin ein Nephilim. Es gibt ohnehin mehr Dämonenkinder als Nephilime. Das würde das Gleichgewicht nur weiter schwächen. Außerdem habe ich ohnehin kaum noch Körper, die ich beschwören könnte.“
Schließlich kommen die vier Kinder auf die Lichtung, in der das Sägewerk liegt. Hier hat ein harter Kampf stattgefunden. Überall ist Blut verteilt. Einige angefressene Leichen liegen auf dem mit Spänen übersäten Boden. Noah erträgt den Anblick der Szenerie kaum. Er schaut sich dennoch jeden Körper genau an. Seinen Vater findet er unter den Toten nicht.
Plötzlich kann man deutliches Knurren und Zähnefletschen aus dem Unterholz vernehmen. Die vier stellen sich zusammen, Rücken an Rücken. Nekomaru ruft seine Sense. Aus dem Wald springen ihnen sechs Wölfe entgegen und beginnen die Kinder zu umkreisen.
Sofort bricht Nekomaru aus und greift an. Die Wölfe sind schnell, rechnen jedoch nicht mit der Entschlossenheit und dem Wagemut des Blondhaarigen. Sein Hieb trifft eines der Tiere und trennt diesem das linke Vorderbein mit einem großen Teil des Brustkorbes ab.
Die anderen fünf Wölfe greifen Xenos, Noah und Kurojoshi an. Mit einer sie umschließenden Rankenwand isoliert Xenos sich und die anderen beiden, bevor er mit seinem herbeigerufenen Geisterdolch über seine eigene Barriere springt. Er rammt seine Waffe einem anderen Wolf in den Rücken.
Während sich Nekomaru und Xenos an den vier verbliebenen Wölfen zu schaffen machen, schnellt die Aufmerksamheit der Hohepriesterin zurück ins Dickicht, aus dem die Wölfe hervorgesprungen waren. Es raschelt. Mit einem Satz springt ein Junge bis auf die Rankenwand. Er ist schmutzig, kaum bekleidet und vollkommen zerzaust. Er sieht aus, als wäre er ein Wilder, der nie zuvor in der Zivilisation gelebt hat. Mit den Zähnen knirscht er die beiden unter sich an und beginnt zu knurren.
Nun bemerken auch Xenos und Nekomaru den weiteren Gast. Der Nekromant löst die Rankenwand auf und lässt so den Jungen zu Boden fallen. Mit einer Druckwelle schleudert er die vier Wölfe vor sich und Nekomaru fort und stellt sich dem plötzlichen Gast in den Weg. Die Raubtiere hingegen lassen sich nicht verschrecken und greifen Nekomaru an. Sie besitzen kein bisschen Scheu. Ihr Instinkt scheint komplett abstinent. Sie kämpfen weiter, obwohl sie unterlegen sind.
Der wilde Junge heult auf. Zitternd beginnen die beiden bereits besiegten Wölfe sich erneut zu erheben. Ihr Körper wandelt sich. Sie regenerieren ihre Verletzungen, bekommen tiefschwarzes Fell und es bilden sich jeweils zwei weitere Köpfe mit rot glühenden Augen. Unmittelbar greifen die beiden Höllenhunde Nekomaru von hinten an, der allein gegen die vier verbliebenen Wölfe kämpft. Auch er hat die Auferstehung der beiden Höllenhunde mitbekommen und schafft es, ihren unglaublich langen Pranken zu entgehen. Allerdings gelingt es einem der Wölfe, denen er den Rücken zukehren musste, sein Gebiss in den Oberschenkel des Blondhaarigen zu versenken. Er geht zu Boden und die Wölfe drohen sich auf ihn zu stürzen.
Erneut entfesselt Xenos eine Druckwelle. Sie erwischt alle sechs Kreaturen, aber auch Nekomaru wird fortgeschleudert. Währenddessen zieht die junge Priesterin Kurojoshi aus ihrem Gewand einige handgroße Zettel, beschrieben mit roten Sigillen. Zwei von diesen wirft sie vor sich zu Boden.
„Ich helfe euch. Kinji, Megani, treue Untertanen Nijis, steht mir bei!“
Aus den Sigillen erscheinen zwei Nekomanta, Katzendämonen mit zwei Schwänzen. Sie stürzen sich einem der Höllenhunde entgegen. Xenos ist beeindruckt. Ein Zauber zur Beschwörung von Dienern, wie er ihn auch nutzt. Kurojoshi bereitet jedoch vorab Blutsigille vor, um sich im Einsatz nicht mehr darum kümmern zu müssen. Eine kluge Magierin.
Noah drängt sich entschlossen und kampfbereit zwischen Xenos und den jungen Wilden. Er symbolisiert seinem Verbündeten, an anderer Front helfen zu können. Dieser versteht und wendet sich Nekomaru und den Bestien zu, die sich gerade wieder aufraffen.
Mit seinem „Spiritus mouit“ überträgt er mehrere Schläge vor sich auf die Wölfe und schenkt Nekomaru damit Zeit, eher als diese wieder kampfbereit zu sein. Er holt seine Sense zu sich und zieht die Sichel durch den Körper des nächsten Wolfes. Der Höllenhund sucht sich als nächstes Ziel den Nekromanten und sprintet, mit seinen drei Köpfen schnappend, auf ihn zu. Dieser entscheidet sich, seinen kleinen Kobolddiener zwischen sich und dem Dämon zu beschwören. Wie erwartet, beißt einer der Köpfe zu. Der Kobold explodiert, vereitelt den weiteren Angriff auf Xenos und reduziert die Anzahl der Köpfe auf zwei.
Währenddessen hat es Nekomaru geschafft, weitere zwei Wölfe auszuschalten, und teilt nun auch den letzten entzwei. Zufrieden, wie immer vollgeschmiert mit dem Blut seiner Gegner, schaut er sich um. Alle verbliebenen Gegner befinden sich im Kampf. Kurojoshi und ihre beiden Dämonen kümmern sich um den einen Höllenhund, während Xenos gegen den anderen kämpft. Noah hat inzwischen dem wilden Jungen die Bewegungsfreiheit genommen und sich auf diesen gesetzt. Nekomaru entscheidet sich dazu Xenos zu helfen und sprintet auf die zweiköpfige Bestie zu. Doch mit dieser Aktion überstrapaziert er sein verwundetes Bein endgültig. Er knickt weg und fällt zu Boden.
Sofort wendet sich der verletzte Höllenhund der leichten Beute zu. Mit einem weiteren Schlag versucht Xenos die Aufmerksamkeit vergebens wieder auf sich zu lenken. Der Blutdurst der Bestie ist zu groß. Nekomaru versucht sich an seiner Sense wieder nach oben zu ziehen. Doch schon schmeißen ihn die Pranken zurück zu Boden und drücken ihn in die weiche mit Bambusspänen versetzte Erde. Speichel und Blut tropfen dem Jungen von oben ins Gesicht, während dieser versucht, das schwere Ungetüm von sich zu drücken.
Xenos handelt schnell und verhindert mit seinen Ranken, dass die beiden verbliebenen Köpfe zubeißen können. Er beeilt sich, Nekomaru zur Hilfe zu kommen. Doch die schiere Kraft des Höllenhundes lässt die Ranken vorher reißen.
Plötzlich springt Noah auf das riesige Tier und reißt es von Nekomaru herunter. Er drückt die Bestie zu Boden und schlägt mit seinen bloßen Fäusten auf die Köpfe ein. Man kann ein letztes Wimmern vernehmen, bevor man das Brechen der Schädeldecken hört.
Nekomaru richtet sich auf. Erstaunt schauen er und Xenos zu Noah, dem sie so etwas nicht zugetraut hatten. Dann fällt ihr Blick hinter sich zu Kurojoshi. Ihre Nekomantas haben den anderen Höllenhund besiegt. Die beiden kleinen Dämonen sitzen zufrieden neben ihrer zierlichen Meisterin, die sich bereits um den zerzausten Jungen gekümmert hat. Dieser liegt gefesselt unter ihr und windet sich in alle Richtungen um sich zu befreien.
„Da hast du deinen nicht natürlichen Grund für die Wolfsangriffe“, spricht Xenos zur Priesterin, während er Nekomaru hilft aufzustehen.
Sie lächelt: „Ihr habt alle drei meinen tiefsten Dank.“
„Was geschieht nun mit diesem wilden Magier?“, will Xenos wissen. „Er ist sich seiner Kräfte wahrscheinlich nicht einmal bewusst.“
„Er hat seine Familie verloren“, wirft Noah reumütig ein.
Kurojoshi überlegt: „Wir nehmen ihn mit und zeigen ihm, dass Katzen mindestens genauso gut sind wie Hunde!“
Auf dem Weg zurück in die Stadt fallen Xenos und Nekomaru zurück. Das Dämonenkind der Erde lässt ein Gedanke nicht los. Sein Blick bleibt fokussiert auf den wilden Jungen.
„Könnte es nicht sein, dass er mehr ist als ein Magier?“
„Was meinst du?“
„Vielleicht ist er das Dämonenkind der Hunde.“
„Höllenhunde zu beschwören ist keine besondere Gabe.“
Geschrieben von: | Mika |
Idee von: | Mika |
Korrekturgelesen von: | May |
Veröffentlicht am: | 01.11.2018 |
Zuletzt bearbeitet: | 29.10.2020 |