Kapitel 19 – Das Rubinschwert

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Zurück in Moraquell verschaffen sich Xenos, Nekomaru und Ruben einen neuen Überblick über die Lage. Viel Zeit bleibt ihnen nicht mehr, bis die Dämonenhorden die Stadtgrenze erreichen. Wie es aussieht, wurde der Stadtteil am Westufer bereits größtenteils evakuiert. Tatsächlich begeben sich gerade die letzten Einwohner über die Brücke ins Zentrum der Stadt, als die Inquisitionsarmee einzieht. Auf der anderen Seite trifft Xenos auf Zara.

„Sobald alle die Brücke passiert haben, können wir sie zerstören“, bringt die Alchemistin den Jungen auf den aktuellen Stand.

Xenos schaut gen Himmel, welcher allmählich beginnt sich rötlich zu färben. Nicht mehr lange bis zum Sonnenuntergang. Die Nacht wird gefährlich. Dämonen schlafen nicht und Licht benötigen sie ebenfalls kaum. Während der Mond am Himmel steht, sind die Lebenden definitiv im Nachteil. Der junge Nekromant hofft auf einen wolkenfreien Nachthimmel, dass wenigstens der Mond ihnen sein Licht spendet.

Der hellblonde Halbelfenjunge und Anführer der Inquisition stellt sich an Xenos‘ Seite. Zur aktuellen Stunde teilen sie sich die selben Sorgen.

„Wir sollten die Nacht nutzen, um den Gegenangriff zu planen“, erklingt Rubens sanfte, fast schon beruhigende Stimme.

„Ich denke nicht, dass die Nacht ruhig verlaufen wird“, entgegnet Xenos.

Rubens tiefe gräuliche Augen durchdringen Xenos mit entschlossenem Blick: „Genau so wenig wie ich. Doch weißt du sicher auch, dass wir nur gewinnen können, wenn wir das Tor zerstören, aus dem diese Monster in unser Land vordringen. Uns bleibt also nur der Angriff.“

Der junge Inquisitionsführer hat recht. Sie sollten die letzten Stunden des Tages nutzen, ihre Verteidigungslinie aufzubauen. In der Nacht können sie dann den Gegenangriff vorbereiten.

Während dessen wird es im Stadtzentrum immer voller. Mehr und mehr Zivilisten versammeln sich auf dem Markt und drängen sich in den Straßen. Viel mehr, als am Westufer wohnen. So viele Leute können sie hier nicht unterbringen. Wo kommen diese Menschen her? Xenos lässt Zara und Ruben an der Brücke zurück. Mit Nekomaru macht er sich auf Präfekt Marcus von Instrad zu finden. Dieser befindet sich nicht in seinem Haus. Unterwegs fällt dem jungen Nekromanten jedoch ein Muster auf. Die Zivilisten drängen auch vom Osten her ins Zentrum. Schnell machen sie sich also auf zum Ostteil Moraquells. Hier werden sie tatsächlich fündig. An einer der Brücken steht der Präfekt, bespricht sich mit einigen Stadtwachen, während mehr und mehr Bürger den Fluss überqueren.

Der schwarzhaarige Junge eilt zu seinem Stadthalter: „Was ist hier los? Warum kommen die Leute aus der Oststadt hier her?“

Mit blassem Gesicht wendet sich Marcus seinem Fürsten zu: „Wir evakuieren den Stadtteil und wollen die gleiche Strategie wie im Westen anwenden.“

„Das geht nicht“, reagiert Xenos geschockt. „Wir schneiden uns unseren Fluchtweg ab. Wenn die Bürger Schutz suchen wollen, sollten sie lieber in die Siedlungen im Osten des Tals aufbrechen.“

Besorgt anwortet der Präfekt: „Ein Rabe aus Dunkelwald berichtete, dass Eichenrode, eine kleine Holzfällergemeinschaft im Osten, nahezu ausradiert wurde. Direkt im Ort hat sich ebenfalls eine Pforte ins Reich der Toten geöffnet.“

„Unmöglich“, reagiert Xenos und verstummt.

Marcus zückt eine kleine Karte des Tals und beugt sich zu Xenos hinab: „Wir haben um Verstärkung gebeten. Dunkelwald kann uns keine Unterstützung mehr schicken. Sie brauchen ihre Stadtwachen und Milizen nun selbst. Weliasschenk und Viktorhütte haben uns ein kleines Kontingent entsendet. Doch sie werden nicht über Dunkelwald hinaus kommen. Der Norden des Tals ist von uns abgeschnitten. Die Baronie Rabenberg hat eine kleine Kaserne. Ich hatte gehofft, dass sie uns helfen, doch sie haben unser Gesuch abgelehnt. Die einzige Hilfe wird also eine kleine Gruppe Kämpfer aus Aurelium sein und der Trupp unserer Soldaten aus Erzwacht. Auch die südlicheren Gemeinden haben Hilfe zugesichert. Sie werden aber länger brauchen. Bis dahin sind wir sicher eingekesselt.“

„Was ist mit Rotburg?“, hallt eine Kinderstimme.

Ein kleiner, bläulicher, nahezu durchsichtiger Finger schiebt sich über die Karte. Mit einem lauten Schrei stolpert der Präfekt nach hinten. Sofort greifen die Soldaten zu ihren Waffen, die Bürger schauen auf das Geschehen. Doch alle halten Inne, als sie einen unschuldig aussehenden, kleinen Geisterjungen in alter, verbrannter Kleidung sehen, der sich ebenfalls vor dem Schrei des Präfekten erschreckt hat.

„Yuki, was machst du hier?“, geht Xenos auf ihn ein.

„I-ich habe eine Botschaft“, stammelt er, noch immer vom Schreck aus der Fassung. „Die Dämonen haben den Wald übernommen. Sie stehen bald vor unseren Mauern.“

Mit einem Blick der Ungewissheit schaut Xenos zu Nekomaru: „Sangras Armee greift durch zwei Portale an. Mit Rubens Gegenangriff können wir uns nur einem Portal annehmen. Währenddessen kann sich die Dämonenhorde am anderen Portal ungehindert ausbreiten. Wir sind viel zu wenige um beide Fronten zu verteidigen oder gar anzugreifen. Eine Hälfte des Tals wird unvermeidbar verwüstet werden, bevor wir überhaupt daran denken können ihr zu helfen.“

„Dann sollten wir uns zuerst den Angreifern aus Eichenrode annehmen“, erhebt einer der oberen Wachmänner seine Stimme. „Durch die Zerstörung der Morabrücken bildet der Fluss eine natürliche Grenze. Das verschafft uns Zeit zusammen mit den Männern aus Dunkelwald zur Pforte in Eichenrode vorzudringen. Danach können wir vereint zum anderen Portal vorstoßen.“

Xenos will es nicht zugeben, doch das ist genau das, was er auch für sinnvoll erachtet. Ansonsten würden fast alle Siedlungen des Blutquelltals den marodierenden Horden zum Opfer fallen. Auf der anderen Flussseite liegt lediglich Falkenbach. Die Nekropole ist gut verteidigt und kann einem Angriff sicher eine Weile stand halten. Der Junge glaubt jedoch nicht, dass sie mit diesem Plan noch rechtzeitig bei der Stadt ankommen würden. Falkenbach würde mit Sicherheit fallen. Zwar würde Sangra Ayame nicht bekommen, doch Xenos‘ neue Heimat wäre zerstört. Zudem befinden sich in Falkenbach sichergestellte Dämonenwaffen, die Sangra erbeuten würde, sowie der gefangene Dämonenjunge Lucien, ein Diener der Dämonenfürstin Sangra. Das Schlimmste will er sich jedoch gar nicht erst ausmalen. Was würden die Dämonen mit den Einwohnern, seiner Mutter Azarni und seinen Freunden machen?

„Was ist mit Rotburg?“, wiederholt der Geisterjunge Yuki und reißt alle Anwesenden aus ihren Gedanken.

Mit unbehagen tritt Präfekt Marcus an den Achtjährigen heran und versucht zu erklären: „Rotburg ist eine kleine Siedlung am Fuße einer Klippe. Nicht mehr als ein paar duzend Häuser. Der Name stammt noch von der auf der Klippe stehenden Burg. Sie ist aber schon lange nichts mehr als eine Ruine Die Gemeinschaft hat aksi weder Soldaten noch eine Verteidigungsanlage.“

„Ich weiß das“, entgegnet Yuki forsch. „Aber in Rotburg liegt das Grabmal von Seyden von Trinistad, dem letzten Erben der ursprünglichen Herrscher des Blutquelltals. Noch vor den Nebraa gehörte das Blutquelltal der Fürstenfamilie Trinistad. Doch während des Sudamekrieges entbrannte hier im Tal der Blutquellkrieg. Die Dunkelelfen versuchten die Region an sich zu reißen.“

„Doch die Dunkelelfen scheiterten“, setzt Marcus geistesgegenwärtig fort. „Die Dämonenfürstin Sangra intervenierte, als ein fanatischer Anhänger der Blutfürstin den jungen Seyden als Menschenopfer darbrachte. Sie belegte das Familienschwert der Trinistads mit einem Fluch, welcher in der Lage war, das Tal gegen die feindlichen Invasoren zu schützen.“

„Das Rubinschwert“, ergänz Yuki.

Einer der Wachmänner erklärt weiter: „Ein Feind, der von der Klinge verletzt wurde, steht stellvertretend für alle Feinde. So reichte es aus, dass ein Dunkelelf die Waffe zu spüren bekam, um ihr gesamtes Volk zu verfluchen. Jeder Dunkelelf im Tal wurde dahingerafft. Aus allen Körperöffnungen begann ihr Blut hervorzuquellen. Selbst durch die Poren ihrer Haut bahnte es sich seinen Weg. Jeden Dunkelelf, der seitdem versuchte das Tal anzugreifen, ereilte dieser grausame Tod und sie wagten es nie wieder uns anzugreifen.“

Nekomaru flüstert: „Daher stammt also der Name Blutquelltal.“

Marcus nickt: „Eine wahre Legende, die unser Tal seit jeher schützt.“

„Das Rubinschwert“, schlussfolgert Xenos, „kann das Blutquelltal vielleicht erneut retten. Wenn wir es gegen Sangras Dämonen einsetzen, sterben alle Invasoren im Tal.“

Präfekt Marcus in Instrad zögert: „Das Schwert ist das wichtigste Artefakt unserer Region. Es schützt das Tal vor den Dunkelelfen doch den Preis wäre damals niemand bereit gewesen zu zahlen. An ihm klebt das Blut eines Kindes. Mit ihm sind großer Schmerz und tiefe Trauer verbunden. Unsere Vorfahren haben verfügt, dass seine böse Macht nie wieder genutzt werden soll.“

„Da habt Ihr etwas vergessen“, entgegnet der kleine Yuki. „Das Schwert wurde in Seydens Krypta versiegelt. Es wird von seinem Geist geschützt, damit es nie wieder zum Einsatz kommt. Und hier liegt das Detail. Es kann lediglich geführt werden, wenn Seyden es erlaubt.“

Marcus runzelt mit der Stirn: „Bist du dir sicher?“

„Ja, die neue Fürstenfamilie der Nebraa-Dynastie entriss Sangra Seydens gequälte Seele und befreite ihn. Um zu verhindern, dass die Blutfürstin ihn wieder an sich reißt, hat man ihn an sein Schwert gebunden.“

Während die anderen dem Jungen nicht ganz folgen können, versteht Xenos den Zusammenhang. Es ist Grundwissen der Totenkunde, dass eine unfreie Seele, das Ich eines Wesens, immer nur eine Verpflichtung nachgehen kann. Durch Seydens Opferung hat man ihn Sangra geschenkt. Seine Seele wurde verpflichtet ihr zu dienen. Ein Nebraa-Nekromant hat Seydens Seele im Nachhinein allerdings eine neue Verpflichtung auferlegt und damit von der Verpflichtung Sangra zu dienen befreit, bis seine neue Aufgabe abgeschlossen ist.

Xenos schlussfolgert: „Er beschützt das Schwert, oder?“

Yuki nickt.

„Woher weißt du das alles?“, fragt Marcus gänzlich perplex.

Der Geisterjunge verbeugt sich: „Yuki Nebraa, Fürstensohn von Viktor Nebraa, dem letzten Fürsten des Blutquelltals. Das Wissen gehört direkt zu meiner Familiengeschichte.“

Präfekt Marcus und den anderen Umstehenden stockt der Atem. Mit offenen Mündern mustern sie das Kind und erkennen ihn als den, der er ist. Yukis Name mag seine Identität nicht verraten, doch zusammen mit dem seines Vaters und seiner verbrannten Kleidung identifizieren ihn die Talbewohner eindeutig. Sein Vater, Victor Nebraa, war der letzte Fürst und der letzte Nekromant des Blutquelltals. Während der Nekromantenverfolgungen vor gut zweihundert Jahren wurde er zusammen mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner gesammten Familie in Falkenbach auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Es löst ein Gefühl von Unbehagen in ihnen aus. Sie fühlen sich schlecht für das was geschehen ist. Sie fühlen sich schlecht für das, was ihre Vorfahren dem so unschuldig wirkenden Jungen angetan haben, dem sie nun in die Augen blicken. Und gleichzeitig versuchen sie das Geschehene in gegenüber sich selbst zu rechtfertigen, da er einer Nekromantenfamilie entsprungen ist.

Marcus beginnt zu stottern und versucht die richtigen Worte zu finden. Plötzlich ertönt ein lauter Knall, gefolgt von zwei weiteren Explosionen. Rauchwolken steigen am anderen Ende der Stadt empor. Mit Sicherheit waren das die Brücken. Das bedeutet aber auch, dass die Dämonen nun in Moraquell angelangt sind. Es bleibt also keine Zeit mehr länger zu reden.

„Wir werden nach Rotburg aufbrechen und das Rubinschwert verwenden“, verkündet Xenos entschlossen. „Haltet Moraquell bis zum Morgengrauen und organisiert einen Gegenangriff unter Inquisitor Ruben Novadins Führung. Lasst Moraquell auf keinen Fall auf der östlichen Seite einkesseln. Nutzt den Korridor über Erzwacht, um die Zivilisten zu evakuieren.“

Die Soldaten schauen zwischen Marcus und Xenos hin und her, bis der Präfekt Xenos‘ Befehle bestätigt. Augenblicklich verteilen sich die Männer in verschiedene Richtungen.

Dann wendet sich der Nekromant Yuki zu: „Du berichtest in der Nekropole von unserem Plan. Falkenbach kann vorerst nicht mit Unterstützung rechnen. Die Stadt muss sich allein verteidigen und durchhalten. Alle Zivilisten sollen sich hinauf ins Anwesen zurückziehen. Auf dem Plateau sind sie am sichersten.“

Der Geisterjunge nickt ernst und verschwindet. Zurück bleiben Xenos und Nekomaru. Einen letzten Blick werfen sie gen Westen, wo sich die Lebenden und Toten bereits an unterschiedlichen Ufern gegenüber stehen. Sie müssen in Ruben und die Inquisitionsarmee vertrauen. Etwas, was sie vor wenigen Stunden niemals gedacht hätten. Dann brechen sie auf, verlassen Moraquell gen Osten und folgen der Straße Richtung Rotburg. Sie müssen die Siedlung erreichen, bevor die Dämonen aus Eichenrode es tun.

Die letzten Sonnenstrahlen sind längst verschwunden, als die beiden Kinder Rotburg erspähen. Ohne Schwierigkeiten können sie das Dorf erreichen. Unterwegs sind sie nur einer Person begegnet. Sie hatte es eilig, war völlig aufgelöst. Sie will in Moraquell um Hilfe bitten. Schreckliches hat sich in Rotburg zugetragen. Den kurzen Ausführungen konnten die Jungen nicht ganz folgen doch nun sehen sie mit eigenen Augen, was dem kleinen Ort widerfahren ist.

Die gut ausgebaute Straße führt direkt in die entlang der Straße verlaufende Siedlung. Während links entlang der Straße Häuser aus massivem roten Granit und braun gebrannten Ziegeln stehen, gleicht die rechte Hälfte einem Trümmerfeld. Meterhoch türmt sich rotes Gestein, nur die Fassaden erahnbarer Häuser halten das Geröll. Menschen mit Fackeln laufen gehetzt durch das Dorf. Lautes Geschrei einer versuchten Organisation der Leute ist zu vernehmen. Der Steilhang, an dessen Fuß Rotburg liegt, ist abgebrochen, hat die halbe Stadt unter sich begraben. Eindeutig eine Folge des unerklärlichen Bebens im Tal.

Xenos zögert. Leise spricht er einen Zauber und spürt die Energie der noch lebenden Verschütteten. Unter den Trümmern liegen noch zahlreiche Menschen, die um ihr Leben kämpfen. Doch die Einwohner brauchen Hilfe sie rechtzeitig zu befreien. Mit der Arbeitskraft seiner Untoten wäre das kein Problem. Jeder Untoten, den er jetzt beschwört, könnte am Ende jedoch in der Verteidigung von Falkenbach fehlen.

„He ihr!“, wird ihnen plötzlich entgegen gerufen. „Wir brauchen hier Hilfe. Hier sind Menschen verschüttet!“

Nekomaru rollt mit den Augen: „Xenos, dafür haben wir keine Zeit. Siehst du das? Da oben auf der Klippe sind Ruinen. Das muss die alte Rotburg sein. Wir brauchen das Schwert! Das ist unsere Priorität.“
Xenos schaut zu seinem von Dämonen geprägten Freund. Noch immer versucht er ihm beizubringen, dass jedes Leben etwas wert ist. Innerlich stimmt er Nekomaru in dieser Situation zwar zu, doch bäumt er sich nun absichtlich dagegen auf, um dem Blondhaarigen eben jene Werte zu vermitteln. Er läuft auf die Gruppe an Leuten zu. Nekomaru blickt hinauf zur Ruine, dann wieder zu Xenos. Er seufzt. Dann folgt er ihm.

„Wir können euch helfen“, ruft Xenos als Antwort und läuft in den Lichtschein des Dorfes.

Der Mann, der sie eben erkannt und gerufen hat schreckt zurück: „Der Nekromant! Der Nekromant von Falkenbach!“

Panik bricht unter den Anwesenden aus. Xenos versucht sie zu beschwichtigen, doch niemand schenkt seinen Worten gehört. Jeder versucht so schnell er kann zu verschwinden. Die Leute haben Todesangst. Erst das Beben, dann die Katastrophe und nun in der Nacht taucht aus dem Dunkeln die gefürchtetste Person des Tals auf. Todesangst zeichnet die Gesichter der Bürger.

„Bleibt stehen oder wir bringen euch alle um!“, schreit Nekomaru.

Augenblicklich bewegt sich kein einziger der Helfer mehr. Jeder verharrt wie eingefroren in seiner Bewegung. Mit eben jener Todesangst spielt Nekomaru bewusst und bringt sie so dazu dem gefürchteten Nekromanten nun doch gehör zu schenken. Dieser ist von Nekomarus Initiative jedoch absolut unerfreut. Mit finsterem Blick schaut Xenos ihn an.

„Mach was draus“, flüstert der Blondhaarige schelmisch.

„Mein Freund lügt“, beginnt Xenos. „Wir sind nicht hier, um euch zu Leid zuzufügen. Wir sind hier um zu helfen. Auch wenn ihr mir nicht vertraut, so denkt an eure Freunde und Familie, die hier verschüttet vor euch liegt. Ich weiß ihr fürchtet meine Fähigkeiten. Doch wenn ihr meine Hilfe annehmt, kann ich euch viele helfende Hände zur Verfügung stellen.“

Einer der Männer fasst den Mut und dreht sich zu Xenos um. Er atmet tief durch, bevor er zum jungen Nekromenten spricht.

Mit klarer, tiefer Stimme ruft er: „Wir wollen keine Hilfe von verdorbenen Seelen. Wir warten auf Hilfe von Unseresgleichen!“

Xenos akzeptiert seine Aussage. Gefasst dreht er sich um und geht. Er hat Hilfe angeboten. Sie wurde abgelehnt.

„Es wird keine Hilfe kommen“, ergreift Nekomaru das Wort. „Moraquell kämpft gegen Dämonen, die ins Tal eindringen. Auch nördlich von euch wird bereits gekämpft. Wir sind hier, um mit dem Rubinschwert die Dämonen aufzuhalten, um uns alle zu schützen. Wir sind die einzige Hilfe, die euer kleiner, erbärmlicher Ort aktuell erwarten kann.“

Die harschen Worte lassen die Einwohner sprachlos zurück. Glauben sie dem Jungen oder zweifeln sie ihn an? In jedem Fall macht er ihnen ihre momentane, aussichtslose Lage klar. Und dennoch bittet sie niemand um Hilfe. Bis auf ein kleines Mädchen.

„Bitte, hilf uns meine Mama zu befreien!“, ruft sie Xenos schluchzend entgegen.

Augenblicklich bleibt Xenos stehen. Langsam dreht er sich um, als ausgerechnet die Kinder ihre Stimmen erheben. Mehr und mehr bitten ihn um Hilfe. Schließlich brechen auch einige der Erwachsenen ihr Schweigen. Sie wollen die Hilfe des Nekromanten. Nur wenige verharren ruhig. Ihre Ablehnung ist jedoch nicht länger die Mehrheit.

Xenos beißt sich in den Daumen. Blut tropft zu Boden und zeichnet ein im Schein der Fackeln rot glitzerndes Sigill. Aus ihm hervor erheben sich wenige Duzend wiedererweckter Bewohner aus Falkenbach. Unter ihnen ist auch Diana, Parfümeurin der Stadt. Der Junge hat sich dafür entschieden die Toten aus der Nekropole abzuziehen, die ohnehin nicht kämpfen wollen. Zudem hat er darauf geachtet, dass ihr Körper noch möglichst lebensecht wirken. So schwächt er weder die Verteidigung der Stadt noch versetzt er die Einwohner Rotburgs wieder in Angst. Diese begegnen den Untoten nun eher mit Staunen und Neugier.

„Diana“, wendet sich Xenos an seine Getreue. „In Rotburg wurden Leute verschüttet. Helft dabei sie zu befreien. Nekomaru und ich müssen hinauf zur Burgruine.“

Die kleine Frau schaut sich um: „Wir geben unser Bestes. Was ist mit Falkenbach?“

In diesem Moment erscheint Yuki aufgeregt zwischen ihnen: „Ich habe es nicht zur Nekropole geschafft. Sie haben mich auf dem Weg entdeckt. Da bin ich umgedreht und habe euch gesucht.“

„Yuki kann als Geist viel schneller reisen als wir“, erklärt Nekomaru. „Dabei kann er nur von anderen Geistern entdeckt werde. Sangra weiß sicher, dass wir Hilfe von Geistern haben und nutzt sie selbst. Es war also klar, dass sie uns bei einem Großangriff auf diese Weise versucht zu behindern.“

Xenos schüttelt mit dem Kopf: „Ich hoffe Falkenbach hält lang genug durch. Diana, wir müssen das Rubinschwert holen. Das ist unsere einzige Chance das Tal und die Nekropole zu retten.“

Die Parfümeurin nickt. Dann machen sich Xenos und Nekomaru gefolgt von Yuki schnellen Fußes auf hinauf zur alten Burg, zur Krypta von Seyden von Trinistad.

Inmitten des alten Burghofs steht es, das Grabmal des Jungen und seiner Familie. Ein kleines Mausoleum, anders als der Rest erbaut aus schwarzem basaltartigem Gestein. Ein Eisengittertor verhindert das betreten. Eine rostige Kette hält es geschlossen. Dahinter liegt eine mit Moosen und Flechten bewachsene Treppe, die in den Berg hinein führt. Während Yuki als Geist mit Leichtigkeit durch das Gitter hindurch schreitet, bleiben die anderen beiden zurück. Sie haben keinen Schlüssel. Doch davon lässt sich Xenos in der Eile nicht abhalten. Er zieht sein Dämonenschwert und schlägt auf die alte Kette ein. Der tiefgehende Rost hält dem nicht stand. Die einzelnen Glieder zerpulvern und fallen zu Boden. Laut knarrend öffnet sich die Tür. Ihr Quietschen dringt hinaus in die Nacht, bevor die drei Kinder zielstrebig der Treppe hinunter folgen. Als das kühle Mondlicht verschwindet, entzündet Xenos eine halb verbrauchte Kerze aus seiner Tasche. Ihre kleine Flamme erhellt die lange Treppe, welche zunehmend weniger feucht und bewachsen ist.

Schließlich eröffnet sich vor ihnen ein kleine Gruft, die ebenso mit dem schwarzen Gestein des Neavor-Gebirges verkleidet wurde. Getragen von vier Säulen und einer alten, massiven Kreuzgewölbedecke ist sie den Krypten der Nekropole Falkenbach sehr ähnlich. Das ist jedoch nicht verwunderlicht, da ihre Erbauung zeitlich dicht beeinander liegt. Im Raum befinden sich sieben steinerne Sarkophage. Jeweils drei befinden sich links und Rechts in kleine Nieschen eingelassen. Der siebte Steinsarg steht direkt voraus auf einem kleinen Podest. Als Xenos sich nähert, der Schein seiner Kerze die Gruft beleuchtet, blitzt und schimmert ihm etwas entgegen. Vorsichtig nähert er sich der Sarg vor ihm. Der Nekromant betritt das Podest und blickt auf das kleine, wunderschön verzierte Steingrab, der das Relief eines schlafenden Jungen von ungefähr neun Jahren auf dem Sargdeckel trägt. Das muss es sein. Die Ruhestätte von Seyden von Trinistad. Xenos verliert sich in dessen Abbild. Er erkennt sein Antlitz, sein einfaches Kampfgewand und seinen angedeuteten wärmenden Pelzumhang. Auf dem Kirchplatz von Moraquell steht eine Bronzestatue des Jungen. Er hatte ihr nie viel Beachtung geschenkt. Die Hände des schlafenden Seyden sind auf seine Brust gelegt. Zwischen ihnen hält er ein Schwert. In den Augen des Nekromanten verfliegt die Anspannung. Der güldene Schaft verziert mit einem im Knauf eingelassenen blutroten Rubin lässt für Xenos keinen Zweifel mehr. Vor ihm liegt es. Das Familienschwert der Familie Trinistad. Die von Sangra verfluchte Waffe. Das Rubinschwert.


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 01.12.2022
Zuletzt bearbeitet: 03.12.2022
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