Es ist noch früh am Morgen, als Xenos vom Läuten der Glocken des in der Nähe befindlichen, großen und prachtvollen Hauses der Götter geweckt wird. Verschlafen schaut er auf. Der Junge braucht einen Moment um zu sich zu finden. Dann lässt er sich zurück ins Bett fallen und murmelt leise etwas ins Kissen. Schließlich rafft er sich auf und schaut sich um. Das Zimmer ist nicht sonderlich groß und nur sperrlich ausgestattet. Daraufhin fällt sein Blick auf den kleinen, braunhaarigen Jungen der Händler. Er schläft noch ruhig und in die dicken Decken gekuschelt neben ihm. Xenos schaut ihn eine Weile an.
Seine Gedanken schweifen: „Eigentlich hatte ich nicht gedacht, dass ich auf meiner Reise jemanden bei mir haben werde. Hoffentlich finde ich seine Eltern schnell wieder. Die Stadt ist zwar ziemlich groß, aber dennoch recht überschaubar. Wir sollten bald aufbrechen. Umso schneller finden wir seine Eltern und ich kann weiterreisen.“
Nun wacht das Kind neben Xenos ebenfalls langsam auf. Die Morgensonne fällt ihm ins Gesicht. Noch halb schlafend, stützt er sich auf und guckt sichtlich irritiert mit halb geschlossenen Augen in Xenos’ Richtung.
„Mama?“
Xenos erschreckt und schaut ihn ein wenig unbeholfen an. Der Kleine reibt sich die Augen. Dann scheint er sich an alles zu erinnern.
Er widerruft seine Aussage: „Ups. Entschuldigung.“
Es scheint beiden ein wenig unangenehm zu sein. Einen Moment herrscht Stille, dann ergreift Xenos die Initiative.
„Gut, du bist wach. Dann komm, … „, er hält inne. „Wie heißt du eigentlich? Ich bin Xenos.“
Der Junge fängt an zu kichern: „Ich bin Kumaru.“
„Ah, schön zu wissen. Gut Kumaru, dann wollen wir uns mal bereitmachen in die Stadt zu gehen.“
Kurz darauf stehen sie vor dem Gasthaus.
„Wo geht es lang?“, fragt Kumaru.
Xenos kratzt sich am Hinterkopf: „Ich dachte, wir gehen zuerest dahin, wo deine Eltern immer nächtigen, wenn sie hier sind.“
Der Junge überlegt einen Moment und rennt dann zielstrebig davon. Schnell läuft Xenos ihm hinterher. Es ist ein kurzer Sprint durch die Stadt, bis sie an einer schmalen Tür in einer schmalen Seitengasse angelangen. Die Jungen klopfen. Ein großer stämmiger Mann reißt die Tür auf und schaut grimmig auf Xenos nieder. Dieser lässt sich davon nicht beeindrucken und setzt zur Erklärung an. Doch bevor er dazu kommt, fällt der Blick des Mannes auf Kumaru. Urplötzlich ändert sich der Gesichtsausdruck des riesigen, böse schauenden Mannes komplett. Sein Gesicht überzieht sich mit einem Gefühl der Freude.
„Kumaru! Wie kommst du denn hier her? Wir dachten alle, wir sehen dich nie wieder. Was ist dir alles passiert?“
Der Mann tritt nach draußen, nimmt Kumaru an der Hand und führt ihn hinein. Sofort beginnen sie sich in tiefe Gespräche zu verwickeln. Dem anderen Jungen am Eingang schenkt der groß gewachsene Mann keine weitere Beachtung. Xenos folgt den beiden wortlos.
Im Haus befindet sich eine Rezeption und in der rechten Ecke eine kleine Sitzecke. Dort nimmt der Mann mit Kumaru Platz. Xenos setzt sich dazu. Eine ganze Weile lang reden die beiden über allerhand Dinge. Kumaru spricht über die Entführung und seine Erfahrungen unter den Banditen. Sein Gesprächspartner erzählt ihm von den Gefühlen seiner Familie nach seinem Verschwinden bis zu den neuesten Berichten aus ganz Atra-Regnum. Im Gespräch fällt auch mehrmals sein Name – Shuota. Es ist wohl eindeutig, dass dieser Mann mit den Händlern zu tun hat.
Schließlich erzählt Kumaru von seiner Rettung. Er erzählt von Xenos‘ Mut und der großen Hilfe, die er war.
Shuotas Blick fällt erstmals wieder auf den schwarzhaarigen Jungen: „Und der, der dich hergebracht hat, ist dieser Xenos?“
„Ja, aber erst dachte ich, er will mich auch irgendwo hin entführen, und hatte Angst vor ihm, doch …“
Kumaru wird von Shuota unterbrochen. Dieser steht auf und wirft sich vor Xenos auf die Knie. In diesem unerwarteten Moment schreckt Xenos hoch, dem die Situation eigentlich allmählich zu langweilig wurde. Er hatte sich in den Sessel sinken lassen und seinen Kopf auf seiner Hand abgestützt.
Schluchzend verbeugt sich Shuota: „Ich danke dir, dass du unseren kleinen Kumaru gerettet hast.“
Xenos ist die Situation nun noch unangenehmer als zuvor und er sinkt wieder zurück in den Sessel. Einen solchen Gefühlsausbruch hätte er von einem großen, stark wirkenden Erwachsenen nicht erwartet.
„Entschuldige. Ich bin einfach überglücklich, dass wir Kumaru wiedersehen dürfen“, fügt der Mann an. „Kann ich etwas für dich tun?“
Xenos steht aus dem Sessel auf: „Ich sah es als meine Aufgabe die Banditen zu bestrafen. Selbstverständlich habe ich dabei Kumaru befreit. Dafür möchte ich keine Belohnung oder ähnliches. Das einzige, was ich vermisse, sind die Händler. Ich habe mit ihnen vereinbart, dass wir uns hier treffen.“
„Tut mir leid. Es ist noch niemand hier aufgetaucht. Ich frage mich ebenfalls schon, wo sie bleiben“, antwortet der Mann. „Das ist aber kein Problem. Ich kann auf Kumaru aufpassen bis sie kommen. Wir haben dir sicher schon genug Umstände bereitet.“
„Dann lasse ich ihn in Eurer Obhut und werde nach den Händlern suchen. Spätestens heute Abend werde ich Euch Bescheid geben“, beschließt Xenos.
Mit diesen Worten verabschiedet sich Xenos und lässt Kumaru und Shuota zurück.
Erneut macht sich Xenos auf, die Stadt abzusuchen. Doch seine Suche bringt keinen Erfolg. Gegen Mittag kommt er auf dem Marktplatz an. An einem der Stände bestellt er sich eine kleine Portion Reisbällchen. Beim Essen fasst er den Entschluss, den Weg noch einmal zurückzugehen und zu schauen, wo die Händler bleiben. Sie müssten längst hier sein. Selbst Shuota hat sich gefragt, wo sie bleiben. Ebenfalls ist Xenos‘ Pferd noch bei den Händlern. Ohne dieses würde der Weg zur Kaiserstadt länger dauern, als wenn er den Tag hier verbringt, um das Pferd und die Händler zu finden.
Schließlich begibt er sich auf den Weg. Bereits nach einer kurzen Strecke erblickt er zwei Leute, die ihm entgegenkommen. Sind das Mitglieder der Händlerfamilie? Als sie näher herankommen, erkennt Xenos, um wen es sich handelt. Es ist die junge Frau der Händler mit ihrer Tochter.
„Xenos?“, reagiert die Frau ungläubig. „Was machst du denn hier? Ich dachte, wir wollten uns in Neuboren treffen.“
„Das dachte ich auch. Was ist passiert?“
„Jemand hat unsere Räder sabotiert.“, erklärt die Frau.
„Wann das?“
„Wahrscheinlich schon in Ankrat“, hebt die Frau die Schultern. „Jetzt sind wir auf dem Weg in die Stadt, um jemanden zu finden, der uns passende Räder anbauen kann. Die anderen sind bei der Karawane geblieben.“
„Ich verstehe nicht, warum jemand Euren Wagen sabotieren sollte“, schüttelt Xenos mit dem Kopf.
„Ich kann es mir auch nicht erklären“, wiederholt die Frau ihre Geste. „Hat dein Plan, den Schurken zu folgen, eigentlich funktioniert?“
„Ja“, antwortet Xenos schlicht. „Ich konnte Kumaru befreien. Er ist im Moment bei Shuota in Neuboren.“
Die Frau hält sich die Hand vor den Mund. Sie sinkt auf ihre Knie und fängt an zu schluchzen.
„Vielen Dank“, bringt sie leise hervor. „Vielen Dank.“
Sie beginnt vor Glück zu weinen. Das kleine Mädchen versucht ihre Mutter zu trösten. Schließlich gelingt es ihr die Fassung wiederzugewinnen.
„Dann wollen wir schnell dafür sorgen, dass die Wagen repariert werden, damit wir alle zu ihm kommen können“, spricht sie abschließende Worte.
Daraufhin setzen alle ihren Weg in die jeweils entgegengesetzte Richtung fort. Xenos folgt dem Weg weiter in Richtung der liegen gebliebenen Planwagen, während die Frau mit ihrer Tochter ihren Marsch nach Neuboren fortsetzt.
Während Xenos weiter durch den Wald zieht, lassen ihn die Gedanken darüber nicht los, wer die Wagen der Händler sabotiert haben könnte und warum? Schon bald erblickt er aber die liegen gebliebene Karawane. Die Männer gehen um die Wagen herum, begutachten deren Zustand, während das alte Ehepaar auf einer Decke bei den Pferden sitzt. Niemand bemerkt Xenos, bis er kurz vor den Wagen stoppt. Erst jetzt wird man auf ihn aufmerksam.
„Xenos?“, fragt die alte Dame.
Alle schauen auf und blicken zu dem Jungen.
„Was machst du denn hier? Wie geht es dir? Konntest du die Diebe verfolgen?“, fragt ihn die alte Frau aus.
„Ja, ich konnte ebenfalls Kumaru retten, der sich im Moment bei Shuota befindet.“
Alle schauen erstaunt und kommen auf Xenos zu. Die Vier stellen ihm viele Fragen, würden am liebsten jedes Detail kennen. Plötzlich wird der alte Herr still. Er senkt den Kopf und überlegt einen Moment.
„Aber…Shuota ist doch in Erzhohn“, bringt er schließlich seine Gedanken zum Ausdruck.
„Dann muss dieser Shuota ein Betrüger sein! Vielleicht hat er auch unsere Planwagen sabotiert.“, reagiert einer der Männer entsetzt.
„So weit würde ich nicht gleich in meinen Vermutungen gehen. Das ergibt keinen Sinn. Es gibt doch kein Motiv, Shuota zu imitieren und die Wagen zu manipulieren. Warum sollte jemand sowas tun?“, erklärt Xenos. „Es ist aber immerhin ein Anhaltspunkt. Ich werde umgehend zurück nach Neuboren reisen und nach ihm schauen.“
Der Junge verabschiedet sich von der Gruppe, geht zu seinem Pferd und klettert auf dessen Sattel. Dann macht er sich im Galopp auf, zurück zur Stadt.
Am späten Nachmittag erreicht er Neuboren. Xenos steigt vom Pferd und führt es in schnellen Schritten durch die Straßen. Dann biegt er in die Gasse ein, in welcher Shuotas Gasthaus liegt. Kurz vor seinem Ziel überkommt ihn doch ein ungutes Gefühl. Den ganzen Weg hat er sich darüber Gedanken gemacht. Schnell bindet er sein Pferd an und stellt sich vor die Tür. Es ist ruhig.
Blitzschnell hebt er die Hand, öffnet die Tür und tritt herein. Nun steht er im Eingangsbereich. Sein Blick wandert durch den Raum, doch es ist niemand zu sehen. Er rennt den Gang entlang, auf dem die Zimmer liegen. Jede Tür, an der er vorbeiläuft, öffnet er und schaut hinein. Nirgends ist jemand zu finden. Er kommt an der hintersten Tür an. Hinter dieser liegt wahrscheinlich die Wohnung von Shuota. Er überlegt nicht lange und öffnet sie ruckartig.
Plötzlich erblickt er Shuota und Kumaru, die ihn im selben Moment verwundert anschauen.
„Schon zurück?“, fragt Shuota.
Xenos bleibt in der Tür stehen: „Ich habe die Händler gefunden. Sie sagten mir, dass Shuota zurzeit in Erzhohn ist. Demzufolge könnt Ihr nicht der Echte sein! Jetzt braucht Ihr eine gute Erklärung.“
Shuota lacht: „Das stimmt, ich war in Erzhohn. Jedoch bin ich früher wieder abgereist, da mein Freund, den ich dort treffen wollte, nicht erschienen ist.“
„Könnt Ihr das beweisen?“
„Lass mich kurz nachdenken“, antwortet Shuota. „Ja, kann ich. Ich habe noch einen Beleg des Gasthauses, in dem ich aß.“
Der Mann steht auf, geht zur großen Schrankwand am anderen Ende des Zimmers und holt einen kleinen Zettel aus einer Schublade.
„Hier ist sie. Dort steht genau, was, wann und wieviel ich gegessen habe sowie was es mich kostete.“
Xenos begutachtet die Notiz. Alles stimmt. Es ist erst drei Tage her. Seine Zweifel sind so gut wie ausgeräumt. Hätte er nur weniger in die Angelegenheit hineininterpretiert.
„Es stimmt. Ich entschuldige mich für meine Grobheit. Wenn Ihr nichts dagegen habt, bleibe ich jetzt hier, bis die Händler ankommen.“
„Gern! Wodurch wurden sie denn aufgehalten?“
„Jemand hat die Wagenräder sabotiert. So kamen wir auch zu dem Schluss, dass es eventuell etwas mit Euch zu tun haben könnte. Ihr solltet ja eigentlich noch in Erzhohn sein. Da ich Kumaru bei Euch abgeliefert hatte, kamen dann böse Ahnungen auf.“
„Dann ist der Verdacht gegen mich wirklich nicht unbegründet“, bringt Shuota Xenos‘ Handeln Verständnis entgegen. „Vermutlich hätte ich genauso gehandelt. Irgendwer muss die Räder schließlich sabotiert haben …“
Schnell wird das Thema jedoch beiseite gelegt und Shuota und Kumaru sprechen wieder über ihre Erlebnisse. Währenddessen nutzt Xenos die Zeit für eine Pause.
Zu späterer Stunde klopft es plötzlich an der Tür. Es wird ruhig in der Wohnung. Dann ertönt eine vertraute Stimme vor der Tür. Es ist die Händlerfamilie. Shuota öffnet ihnen die Tür. Kaum erblickt Kumaru seine Eltern, springt er auf und rennt los. Voller Freude hüpft er in die Arme seiner Mutter, die ihn sehnsüchtig an sich drückt. Nach einer langen Trennung und traumatischen Erlebnissen sehen sich alle endlich wieder. Die letzte Zeit muss für Kumaru die Hölle gewesen sein. Die ganze Familie steht um den Jungen herum. In ihren Augen strahlen Glück und Freude. Manchmal sieht man, wie den Angehörigen Tränen über die Wangen fließen. Selbst Shuota wird dabei zu Tränen gerührt. Ein Wiedersehen.
Xenos schaut sich diesen wundervollen Moment an.
„Ob es genauso sein wird, wenn wir Ayame wiederfinden?“
Geschrieben von: | Mika |
Idee von: | Mika |
Korrekturgelesen von: | May |
Veröffentlicht am: | 01.02.2015 |
Zuletzt bearbeitet: | 28.08.2019 |