Kapitel 6 – Der unbekannte Fremde

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Langsam öffnet Xenos seine Augen. Die Anstrengungen im gestrigen Kampf um Buna waren zu viel für den Jungen. Er findet sich in einer kleinen, hölzernen Dachkammer wieder. Die hohe Decke besteht aus Stroh und verläuft schräg nach oben. Neben ihm liegt Kumaru. Dieser ist noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Um dessen Kopf ist ein Verband gewickelt. Direkt neben Kumarus Schlafplatz steht eine Schüssel mit sauberem Wasser.

Der junge Nekromant setzt sich auf. Er hebt seine Hand und schaut sie nachdenklich an. Die Erinnerungen an den gestrigen Tag sind trüb und verschwimmen in seinem Kopf.

„Was war das gestern? Plötzlich überkam mich diese ungeheure Kraft. Ich habe meine Fähigkeiten eingesetzt. Das Ganze ist etwas außer Kontrolle geraten. Ich kann froh sein, dass mich niemand gesehen hat.“

Kumaru atmet schwer und dreht sich auf die Seite. Xenos versucht aufzustehen, sackt aber wieder zurück zu Boden. Sein Bein schmerzt. Erneut unternimmt er einen Versuch. Mit großer Anstrengung drückt sich der Junge an der Wand nach oben. Langsam, Schritt für Schritt, folgt er ihr und verlässt den Raum. Vorsichtig steigt er eine alte, knarrende Holztreppe hinab. Niemand sonst scheint im Haus zu sein. Es ist still. Außerhalb der Mauern vernimmt Xenos dumpfe Stimmen. Er schleppt sich zur Eingangstür und verlässt das Haus. Sein Blick schweift über einen großen Hof, umgeben von Ställen und anderen Wirtschaftshäusern. Viele Leute treiben sich hier umher. Die meisten von ihnen tragen Verbände.

Eine fülligere Frau mit Kopftuch kommt auf den Jungen zu: „Schön, du bist wach. Geht es dir gut? Ich bin Henja. Ist der andere Junge auch schon auf?“

Xenos stützt sich am Türrahmen ab: „Ich denke schon. Vielen Dank für Eure Hilfe. Wo bin ich hier?“

„Das freut mich sehr zu hören. Du bist hier auf Almoran, unserem Bauernhof. Zusammen mit meinem Mann Neffon lebe ich hier. Unser Hof liegt nicht weit von Buna. Als gestern plötzlich die ganzen Leute auftauchten, nahmen wir die Flüchtenden auf und gaben ihnen einen Unterschlupf. Als alles vorbei schien, kehrten ein paar Männer der Wache zurück, um sich einen Überblick zu verschaffen und Überlebende zu bergen. Außer dich und vier weitere Personen gab es jedoch keine Überlebenden. Es tut mir sehr leid. Deine Eltern haben es wahrscheinlich nicht geschafft.“

„Macht Euch keine Sorgen. Ich und der Junge waren allein unterwegs“, erwidert Xenos. „Kann ich den Außenposten besuchen?“

Die Bäuerin schaut ungläubig: „Ja, ich denke schon. Du solltest dich aber lieber noch ein wenig ausruhen. Wir haben Schilder aufgestellt und alle Reisenden nach hier umgeleitet. Bald trifft sicherlich auch eine Versorgungseinheit der kaiserlichen Armee ein.“

„Ich werde trotzdem gehen müssen“, sagt Xenos.

Langsam drückt er sich von der Tür ab. Die Schmerzen in seinem Bein stechen bei jedem Auftreten.

Henja deutet auf eines der Nachbarhäuser: „Wenn du schon gehst, nimm wenigstens eine der Gehhilfen mit dir. Du darfst dein Bein nicht zu stark belasten.“

Xenos nickt und macht sich im Anschluss auf den Weg zurück zum Außenposten.

Trotz der Gehhilfe, die provisorisch aus einem Ast geschnitzt wurde, braucht Xenos eine ganze Weile, bis er in Buna ankommt. Der Stützpunkt liegt vollständig in Ruinen. Dieses Ausmaß hat Xenos innerhalb der zerstörten Mauern nicht begreifen können.

Der Junge wendet sich ab und wandert die Anhöhe in Richtung Neuboren hinauf, zurück in den Wald, aus dem er mit Kumaru kam. An der Waldgrenze angelangt, lauscht er einen Moment. Dann verlässt er den Weg und verschwindet im Dickicht. Sein Ziel ist sein Pferd, welches er gezwungenermaßen zurücklassen musste. Es steht noch an derselben Stelle, an der es mit Kumaru warten sollte. Niemand war bisher hier. Xenos holt seinen Trinkschlauch aus seiner Tasche. Vorsichtig lässt er das Wasser ins Maul das Pferdes fließen. Es ist sehr durstig. Immerhin steht es seit gut einem Tag auf dem trockenen Waldboden, dessen Moos sogar verdorrt wirkt. Schließlich macht Xenos das Tier los. Mit etwas Mühe schwingt er sich auf den Sattel. Langsam lenkt er das Pferd zurück in Richtung des Hofes Almoran.

Während sich die Sonne langsam wieder zu verabschieden beginnt, kehrt Xenos auf den Bauernhof zurück. Er bringt seinen Begleiter zu einem der Ställe. Schon steigt ihm der Geruch von frisch zubereitetem Erbseneintopf in die Nase. Sein Magen rumort. Es zählt definitiv nicht zu seinen Lieblingsspeisen, doch der Junge wäre froh, wieder etwas in seinem Bauch zu haben. Es zieht ihn zu den anderen Überlebenden, die bereits an Tischen sitzen und zu Abend essen. Bei den Tischen sieht er Henja und einige Menschen neben einem großen Topf über einer improvisierten Feuerstelle stehen. Kelle für Kelle verteilt sie das Essen an die wartenden Leute. Langsam beginnt Xenos in ihre Richtung zu humpeln, als ihm Kumaru wieder in den Sinn kommt. Er macht sich Sorgen und diese Sorgen überwiegen seinem Hungergefühl. Bei den anderen kann Xenos ihn nicht entdecken. Somit macht der Junge kehrt und humpelt zurück zum Haus, in dem Kumaru und er lagen. Er erklimmt die Treppe ins Dachgeschoss und betritt die kleine Dachkammer.

Sein Blick fällt auf den noch immer schlafenden Kumaru: „Er ist immer noch nicht wieder wach. Es ist alles meine Schuld. Ich wusste doch, dass es gefährlich wird. Warum habe ich nur zugestimmt ihn mitzunehmen?“

Xenos setzt sich neben ihn: „Ich hoffe, er wird bald wieder gesund. Wenn seine Eltern weiter nach Buna ziehen, werden sie sich sicher große Sorgen machen. Vielleicht sollte ich hier auf sie warten und ihnen Kumaru wieder anvertrauen. Ich kann dieses Risiko nicht erneut eingehen.“

Plötzlich wird Xenos aus seinen Gedanken gerissen. Am Fußende von Kumarus Schlafplatz liegt ein kleiner Brief. Er greift nach dem Umschlag. Sein Name steht auf dem Kuvert. Neugierig öffnet der Junge den Brief und beginnt zu lesen:

„Hallo Xenos, mein Junge. Ich schreibe dir, was schon längst überfällig ist. Doch nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem dein Schicksal seinen Lauf nimmt. Mit deiner Abreise aus Menoria begann für dich deine gefährliche lang vorherbestimmte Reise. Böse Mächte wollen um jeden Preis verhindern, dass du in der Kaiserstadt ankommst. Der Angriff auf Buna verfolgte nur ein Ziel: dich aufzuhalten! Das zeigt unwiderlegbar, dass sie es auf dich abgesehen haben. Die Diener des Totenreiches und ihre Anhänger unter den Lebenden.

Du hast es nicht leicht. Das hattest du nie. Es tut mir leid, dass dir das Schicksal diese schwere Bürde auferlegt hat. Als kleines Kind wurde deine Existenz geheimgehalten, genau wie die deiner Schwester. Ihr beide konntet ein normales Leben führen. Doch als bekannt wurde, dass ihr die Kinder der Prophezeihung der dritten Ära seid, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis jener schicksalhafte Tag dich und deine Schwester trennte. Es war allen klar, dass die Leute, die das Ende des Universums heransehnen, probieren würden, in eurer verwundbarsten Stunde zuzuschlagen. Man versuchte euch zu beschützen und gleichermaßen ein normales Heranwachsen zu ermöglichen, doch die Mächte aus der Welt der Dämonen fanden schließlich ihren Moment um zuzuschlagen.

Du warst schon immer ein kluger und starker Junge. So konntest du dich damals schon gegen Ayames Entführer verteidigen. Doch von da an war klar, dass es nicht so sein wird, wie wir alle es uns gewünscht hätten. In den Folgejahren hast du dich auf deine Aufgabe vorbereitet. Durch deine berechnende, taktische und analytische Art konntest du deine magischen Fähigkeiten optimal ausbauen. Von Geburt an ist es dir vorbestimmt gewesen, einmal ein mächtiger Nekromant zu werden. Dein Interesse für die Nekromantie hast du bereits früh gezeigt. Natürlich war dir bewusst, dass deine Fähigkeiten verboten sind, dennoch konnte ich es unmöglich übersehen. Jede ungestörte Minute verbrachtest du mit Zauberformeln und Experimenten der dunklen Magie. Ich vermag zu sagen, dass deine nekromantischen Kräfte mittlerweile stärker sind als jede andere magische Kraft in dir.

Sei unbesorgt. Ich bin ein Freund. Und mögen diese Worte auch düster klingen, war es nötig dir das zu offenbaren, um dich zu schützen. Du fragst dich sicher wer ich bin. Doch diese Frage hat Zeit. Wichtiger ist, was ich dir jetzt schreibe. Also lies genau.

Ich habe gesehen, wie du in Buna deine verbotene Kraft benutzt hast. Ich habe ebenfalls gesehen, dass sie dir teilweise außer Kontrolle geriet. Dies darf nie wieder geschehen. Deine Seele wird langsam von deinen ungeheuren Kräften gefressen. Das ist unvermeidlich. Du wirst vieles tun, was für normale Lebewesen unvereinbar mit ihrem Gewissen ist. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen. Das ist das Schicksal, das mit solch starken dämonischen Kräften einhergeht.

Doch vorerst musst du aufpassen. Lasse deine Kräfte nie überhand über deinen Körper gewinnen, sonst wirst du nie wieder du selbst sein. Das ist das gefährlichste an dieser Kraft. In der Ausbildung eines jungen Nekromanten liegt die schwerste und riskanteste Zeit seines Lebens. Darum lass mich dir helfen, wie die alten Nekromanten ihren Schülern halfen. In diesem Umschlag befindet sich eine Kette. Trage sie ständig bei dir. Sie zügelt deine Kraft zu deinem eigenen Schutz. Solltest du erneut in die Gefahr geraten, die Kontrolle über deine Kräfte zu verlieren, wird der Stein in der Kette aktiv und bannt die dich korrumpierende, überschüssige Macht in sich.

Du wirst noch viel erleben, Buna war nur der Anfang. Darüber hinaus gibt es noch viel mehr, das du wissen musst. Doch die Zeit wird kommen. Pass auf dich auf. Gezeichnet, der Prophet.“

Xenos lässt den Brief zu Boden sinken. Regungslos sitzt er neben Kumaru. Die Worte des Unbekannten wiegen schwer für ihn. Unbegreiflich fällt sein leerer Blick in den Raum. Wer auch immer dieser Prophet ist, er weiß viel über den Jungen. Mehr als dieser über sich selbst zu wissen dachte. Seine Worte erscheinen Xenos glaubwürdig, doch sie überfordern ihn. Das gesamte Reich der Toten, die ganze Unterwelt, rückt gegen ihn in den Kampf. Und zu allem Überfluss kann seine einzige Waffe, die er dem entgegenzustellen hat, ebenso sein Ende bedeuten.

Das ist alles zu viel für den Jungen. Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Trotz allem ist er nur ein Kind. Und nichts weiter als dieses Kind sieht Xenos in sich selbst. Ein Kind, welches auf sich allein gestellt ist, welches viel zu früh in die Rolle eines Erwachsenen, eines Weltretters gedrängt wird.

Nichts hätte er sich mehr gewünscht als wie alle anderen Kinder in seinem Alter mit seiner Schwester und anderen Verstecken und Fangen zu spielen. Mit anderen Kindern mit Holzschwertern durch den Wald zu rennen und davon zu träumen, einmal ein starker Soldat zu werden. Doch all das wird ihm und seiner Schwester niemals vergönnt sein, denn das Schicksal hat andere Pläne mit ihnen.

Plötzlich hört man Kumaru wieder ausatmen. Er bewegt sich schnell, dreht sich von Seite zu Seite. Dann wird er wieder ruhig. Xenos besinnt sich. Er greift in den Umschlag und holt die Kette heraus. Es ist eine einfache Halskette mit einem weißen Kristall. Der Nekromant schaut sie sich bedächtig an.

„Xenos, was hast du da?“, ertönt es ganz leise.

Schnell lässt er das Artefakt in seiner Tasche verschwinden und schaut zu Kumaru. Seine Augen sind geöffnet. Er ist wach. Kumarus Erwachen ist wie ein Lichtblick für ihn.

Langsam beugt sich der Junge über ihn: „Nichts, nur eine alte Kette. Wie geht es dir?“

Kumaru fasst sich an den Kopf: „Mein Kopf tut ziemlich weh und ich habe Hunger. Was ist passiert? Wo sind wir?“

„Keine Sorge, wir sind in Sicherheit“, beruhigt ihn Xenos. „Ruh dich noch etwas aus. Ich hole uns eine leckere Suppe.“

Erleichtert steht Xenos auf und geht zur Tür. Der kleine Junge schaut ihm nach.

Er verlässt das Zimmer und spricht dabei leise: „Ach ja, danke, dass du mich gerettet hast.“


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 01.05.2015
Zuletzt bearbeitet: 17.04.2023
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