Kapitel 9 – Die gefallene Stadt

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Nachdem der Mörder in Volar nun selbst zum Opfer wurde, kann Xenos endlich das tun, weshalb er hergekommen ist. Er kann einen Blick zur Kaiserstadt wagen. Doch vorab wird er noch einmal ins Rathaus gebeten. Hier erwarten ihn bereits Tenzo und Guren. „Zuerst möchte ich mich im Namen der Stadt für deine Mithilfe, den Nachtmahr zu stellen, bedanken“, spricht Tenzo monoton: „Dennoch möchte ich meine Bedenken sowie die des Händlerrates äußern. Du magst zwar das Problem gelöst haben, aber wir finden deine Lösung doch bedenklich. Ihn sofort umzubringen ist nicht der ideale Weg. Es macht dich ebenso wie ihn zu einem Mörder. Gerade, dass du in deinem Alter bereits so rücksichtslos mit dem Leben anderer umgehst, macht mir Sorgen. Ich kenne dich noch nicht lange, aber scheinbar verbirgst du mehr als du nach außen zeigst. Pass nur auf, dass du dich nicht irgendwann selbst verlierst. Worauf ich eigentlich hinaus will ist, dass der Händlerrat beschlossen hat, dich für deinen Mord zu bestrafen. Allerdings dadurch, dass du uns eine große Hilfe warst, der Mord mehr oder weniger Notwehr war und du noch ein Kind bist, konnte ich den Rat von einer relativ geringen Strafe überzeugen. Du wirst aus Volar verbannt.“

Xenos lässt den Hochelf ausreden und schweigt einen Moment. Schließlich nickt er und spricht: „Ich akzeptiere die Strafe der Händler und werde die Stadt verlassen.“ „Was wirst du nun machen?“, will Tenzo wissen. „Ich habe vor, zur Kaiserstadt zu gehen. Vielleicht finde ich einen Weg hinein. Als ich dort war, sprach ich mit dem Kaiser über den Aufenthaltsort meiner Schwester Ayame. Sie wurde vor vier Jahren entführt. Damals gab er mir einige Pergamente, in denen von einem Entführerversteck berichtet wurde, das noch nicht untersucht wurde. Mittlerweile weiß ich, dass sie sich nicht dort aufgehalten haben. Allerdings ist es möglich, dass meine Schwester zurück in ein den kaiserlichen Truppen bekanntes Versteck gebracht wurde. Ich werde also versuchen, mir dort weitere Informationen über die anderen damals leeren Verstecke zu holen.“ Tenzo bekommt bei Xenos‘ Vorhaben ein mulmiges Gefühl und ist dennoch von dessen Mut und Entschlossenheit beeindruckt. „Du weißt selbst, dass dies sehr gefährlich wird. Ich weiß aber auch, was du in der Stadt erlebt hast und was in dir steckt. Der Kaiser vertraute in dein Können und das, obwohl du noch so jung bist. Ich werde es ihm gleichtun. Doch lass mich dir dennoch helfen.“ „Ich würde es besser finden, wenn Ihr hier bleibt. Ihr werdet hier gebraucht“, lehnt Xenos Tenzos Hilfe höflich ab. „Oh, ich wollte gar nicht mitkommen“, stellt Tenzo richtig: „Seit ich hier bin, habe ich an einer neuen Erfindung gearbeitet, die uns im Kampf gegen die Eindringlinge aus dem Reich der Toten helfen soll. Sie befindet sich noch im Teststadium, aber im Großen und Ganzen ist sie einsatzbereit.“ Der Elf reicht Xenos eine kleine Phiole mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. „Das ist Eure Erfindung?“, fragt der Junge misstrauisch nach, entfernt den Korken und riecht am Inhalt. Gleichzeitig dringt der Geruch der Tinktur in seine Nase. Er verzieht angewidert das Gesicht und wird bleich. „Das ist eine neue Mixtur, welche den Geruch der Untoten nachahmt. Überdeckt man mit ihr den eigenen Körpergeruch, denken die Viecher, man sei einer von ihnen. Jedenfalls die meisten. Hinzu kommt natürlich, dass man sich auch wie sie verhalten sollte. Untypische Bewegungen machen sie misstrauisch. Ob sich auch Geister, Dämonen und andere Kreaturen des Totenreiches täuschen lassen, konnten wir noch nicht so genau herausfinden. Du siehst also, es ist noch nicht perfekt, aber sicher besser als gar nichts.“ Leicht verlegen kratzt sich Tenzo am Hinterkopf, während Xenos weiterhin auf die Phiole blickt. „Ich danke Euch auf jeden Fall. Das wird sicher helfen.“ „Oh, bevor du gehst – ich denke du kannst uns beide gern duzen. Wir kennen uns ja nun schon eine Weile“, wirft Tenzo zum Abschied ein: „Und wir sehen uns doch hoffentlich nicht zum letzten Mal.“ Guren nickt zustimmend. Daraufhin bedankt sich der Junge und verabschiedet sich von Tenzo und Guren. Er verlässt Volar in Richtung Westen.

Von Volar aus bis in die Kaiserstadt ist es ohne ein schnelles Pferd relativ weit. Erst am frühen Abend erreicht Xenos die Ostbrücke in die Stadt. Zum Glück hat er einige Bauern getroffen, die auf dem Weg nach Siva waren. Bei ihnen konnte der Junge mitfahren und nutzte die Zeit in weiser Voraussicht für ein Schläfchen. Ihm war klar, dass der Tag lang werden würde.

Schon vor der Brücke bemerkt Xenos die unangenehme Anspannung rund um das Gebiet. Es ist sehr ruhig. Nicht einmal das leiseste Vogelzwitschern lässt sich vernehmen. In der Mitte der Brücke stehen einige Kisten und Fässer. Um sie herum scheinen Tote zu liegen. Als Xenos näher kommt, bemerkt er, dass Teile der Brücke um diese Stelle stark beschädigt sind. Ganze Abschnitte bröckeln oder sind bereits zusammengestürzt. Scheinbar fand hier ein Kampf statt. Kreaturen des Totenreiches sind auf Menschen getroffen. Diese scheinen ihnen jedoch unterlegen gewesen zu sein. Die Leichen tragen weder Rüstung noch sind sie ausreichend bewaffnet. In den Kisten und Fässern befindet sich feucht gewordenes Schießpulver. Vermutlich hatte man versucht, die Brücke als eine der vier Zugänge in die gefallene Kaiserstadt zu sprengen um zu verhindern, dass die Toten aus der Stadt in das Umland vordringen. So hatte man es mit der Nordbrücke getan. Hier gelang es scheinbar nicht. Die Toten überraschten die Arbeiter und verhinderten die vollständige Sprengung der Brücke. Doch warum breiten sich die Kreaturen aus dem Reich der Toten dann nicht nach Osten aus? Xenos sieht keinen plausiblen Grund. So macht er sich auf, die lange Brücke vollständig zu überqueren. Nachdem er durch die verlassenen Häuserviertel vor der Stadt gestreift ist, steht er schließlich vor dem gigantischen Osttor der Kaiserstadt. Nun verschwinden letztendlich die übrigen Sonnenstrahlen. Der Geruch von Verwesung liegt in der Luft. Auch verbrannt riecht es noch immer, wie an jenem Tag. Bevor er nun hinter das massive Tor schaut, beschließt Xenos, sich mit dem Mittel von Tenzo einzureiben. Der Gestank ist unerträglich und dennoch verteilt er den Inhalt der Phiole über seinem gesamten Körper. Nun kann er einen Blick hinter die Pforte werfen. Das Tor ist nicht geschlossen. Es steht einen Spalt weit offen. Durch diesen betritt Xenos das Innere der Stadt.

Außer dem widerlichen Geruch scheint dieser Teil der Stadt gar nicht so sehr verändert. Die Straßen sind leer. Weder Leichen noch Untote sind zu sehen. So war es bereits zu dem Zeitpunkt als Xenos das letzte Mal aus der Stadt fliehen wollte. Dabei traf er erstmalig auf Nekomaru, den Sohn von Heres. Sein jetziges Ziel ist die Magierakademie im Magierviertel im Norden des zweiten Ringes. Er beschließt, über den Nordbezirk des ersten Ringes zu gehen. Hier erhofft er sich den geringsten Kontakt mit Kreaturen des Totenreiches. In der Nacht wirkt die Stadt noch unheimlicher als am Tage. Die Gefahr lässt sich viel schwerer einschätzen. Auf der anderen Seite fällt ein Eindringling nachts auch weniger auf.

Im nördlichen Außenbezirk kommt Xenos an der Kathedrale der Kaiserstadt vorbei. Um sie herum liegen zahllose Leichen von Untoten und anderen Kreaturen. Auf dem Vorhof stehen viele offene Fässer. Ein hochrangiges Abwehrsigil wurde auf der Eingangspforte angebracht. Das gesamte Kirchenareal ist frei von Leichen und sieht nahezu unberührt aus. Der Junge beschließt, einen näheren Blick darauf zu werfen. Der geheiligte Boden der Kriche muss die Kreaturen des Totenreiches zurückgehalten haben. Die meisten Fässer sind leer. In einigen befindet sich noch ein kleiner Rest. Vermutlich waren sie gefüllt mit Weihwasser. Xenos hatte noch nie mit Weihwasser zu tun. Er hält nicht viel von den Göttern, was für einen Nekromanten nicht verwunderlich ist. „Das Abwehrsigil an der Tür ist nicht mehr wirksam“, stellt Xenos bei näherer Betrachtung fest.

Misstrauisch öffnet er die schwere Tür und betritt die heiligen Hallen. Was er hier sieht, hat er nicht erwartet. Der gesamte Boden ist übersät mit verstümmelten Leichen. Sie fangen bereits an sich zu zersetzen. Hunderte von Toten müssen hier drin liegen. Scheinbar suchten viele Leute hier Schutz vor der Bedrohung als die Kaiserstadt angegriffen wurde. Ein schlauer Schachzug, da es sich bei den Angreifern um Dämonen handelte. Einige der Toten sind Magier aus der Akademie des Magierviertels. Sie haben vermutlich die Schutzzauber aufrecht erhalten und sich mit dem Weihwasser vor der Tür verteidigt. Auch hier drin stehen nicht wenige Fässer. Diese sind jedoch noch verschlossen. Was ist hier passiert?

Xenos beugt sich hinab und schaut die erste Leiche direkt an der Tür genauer an. „Ein Magier, dem der linke Unterarm abgetrennt wurde. Der Schnitt scheint sauber gewesen zu sein. Ebenfalls muss er von oben erfolgt sein. Hat er den Arm gehoben, um einen Schlag abzuwehren? Aber warum sollte er das versuchen? Auszuweichen hätte viel mehr Sinn gemacht. Er muss etwas zum Schutz gehabt haben, was aber mit seinem Arm direkt durchschnitten worden sein muss. Entzwei geteilte Gegenstände sehe ich aber nicht, also muss er einen Zauber verwendet haben. Er war ja schließlich Magier. Auch die anderen Leichen sind zerstückelt und zerschnitten.“ In diesem Moment kommt Xenos eine ungute Theorie in den Sinn: „Er muss ein Geisterschild gehabt haben. Normale Waffen würden von ihm abprallen wie von einem echten Schild, aber nicht eine ganz bestimmte Sense. Nekomarus Dämonensense zerschneidet Geistergegenstände mit Leichtigkeit. Der Schnitt einer Sense würde beim ersten Angriff auch von oben erfolgen. Vermutlich hat der Magier damit nicht gerechnet. Außerdem wäre Nekomaru der einzige, der die Verteidigungsmaßnahmen und den heiligen Boden ohne Probleme hätte überwinden können. Nekomaru hat in der Kathedrale ein Massaker angerichtet.“

Plötzlich tropft es von der Decke auf Xenos Handrücken. Der Junge erschreckt und zieht sich zusammen: „Ah! Das brennt!“ Sofort wischt er den durchsichtigen Tropfen weg. Die Stelle ist gerötet. Er schaut zur Decke und wieder tropft es hinab. Der Boden der über ihm liegenden Empore ist durchnässt mit einer mysteriösen Flüssigkeit, die sich wie Säure zu verhalten scheint. Xenos beschließt, Nekomarus Schandtat den Rücken zu kehren und die entweihte Kathedrale zu verlassen.

Wieder auf sein Ziel fixiert, geht er weiter in den nördlichen Innenring. Bisher hat er noch immer keine Kreatur aus dem Reich der Toten gesehen. „Haben sie die Stadt vielleicht schon wieder verlassen? Das ergibt alles keinen Sinn.“ Doch sobald er den ersten Blick in den Innenring wirft, wird er eines Besseren belehrt. Die Straßen sind voll mit Untoten. Dicht an dicht drängen sie sich durch die Gassen. Xenos zögert, sich unter sie zu mischen. Er hat kein großes Vertrauen in die Mixtur von Tenzo. Doch schließlich tastet er sich vor. Und tatsächlich ignorieren ihn die wandelnden Toten. Langsam drückt Xenos sich durch die Menge. Er ist sichtlich nervös, versucht es sich jedoch nicht anmerken zu lassen. Wird er jetzt entdeckt, ist er den Toten schutzlos ausgeliefert. Schließlich erreicht der Junge die Akademie und betritt das Bibliotheksgebäude. Er steht in einem weiten dunklen Raum voller Bücherregale, die bis zur Decke reichen. Direkt am Eingang gibt es eine Wegbeschreibung für die unübersichtlichen Gänge voller Bücher. Die Bibliothek hat drei Etagen sowie zwei Kellergeschosse als Archive. „Hier lagert so viel Wissen wie an keinem anderen Ort in ganz Atra-Regnum. Es wäre eine Schande, dieses für immer zu verlieren“, denkt Xenos sich: „Im ersten Kellergeschoss im Abschnitt G liegen vermutlich die Dokumente zu den Verstecken von Ayames Entführern.“ Sofort macht sich der Nekromant auf den Weg. Vor der Treppe steht ein voll bepackter Bücherwagen. Es sind Bücher aus dem zweiten Stock, Abschnitt N, Reihe D-2. „Alle diese Bücher handeln von Dämonologie und dem Wissen über das Reich der Toten sowie die dort lebenden Dämonen. Warum sind ausgrechnet diese Bücher hier? Vermutlich sollten sie versteckt werden, um den Dämonen nicht in die Hände zu fallen und so zu verheimlichen, wie viel wir schon über sie und ihre Welt wissen.“ Xenos steckt ein vielversprechendes Dämonarium in seine Tasche und begibt sich die Treppe hinab.

Die Tür in den Keller ist, wie auch die Kirche, von einem ähnlichen Abwehrsigil geschützt, welches ebenfalls nicht mehr aktiv ist. Auch hier reichen die Regale, prall gefüllt, bis an die Decke. Xenos benutzt seine leuchtende Kugel, um hier unten überhaut etwas sehen zu können. Die ganze Etage ist voller dichter Spinnweben. Xenos entdeckt die Treppe ins zweite Kellerarchiv. Vor dem Abgang wurden Bilder und andere Gegenstände an die Wand gestellt. „Vermutlich sollten sie alle hier unten in Sicherheit gebracht werden, doch es blieb nicht genügend Zeit. Wer hätte auch damit rechnen können?“ Schließlich steht Xenos vor Abschnitt G. Der Bereich ist durch Gitter abgeschottet. „Hier lagern die unter Verschluss gehaltenen Dokumente des Kaiserreiches. Mit Sicherheit werde ich auch etwas über die Missionen zu Ayame finden.“ Die normalerweise verschlossen gehaltene Tür steht offen. Viele Regale sind leergeräumt worden. Im Register des Abschnittes sucht er nach ‚Ayame‘. In Reihe A-3 soll er fündig werden. So muss er tatsächlich nicht lange suchen und findet bündelweise Missionsberichte zu potentiellen Verstecken der Entführer seiner Schwester. Akribisch macht er sich daran, alle möglichen Orte herauszuschreiben. Er muss es hier auswerten. Es ist zu viel um alles mitzunehmen. Die halbe Nacht liest er die Berichte und stößt dabei immer wieder auf einen Namen. Mauranus Torn, der ehemalige engste Vertraute des Kaisers Aerton Gredius und Leiter der Magierakademie. Er soll der Anführer eines Kultes namens Impakt sein und eben dieser Kult soll Ayame entführt haben. „Was hat das zu bedeuten? Warum hat man mir dieses Wissen verschwiegen?“, fragt Xenos sich verwirrt. Plötzlich bemerkt er ein seltsames Schmatzen und Krabbeln direkt über ihm …


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 01.03.2017
Zuletzt bearbeitet: 24.08.2017
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