Kapitel 15 – Ein anderer Weg

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Nekomaru war gescheitert. Ayame lebt. Beinahe hätte er sie befreit. Doch dann hat er sie wieder verloren. Ohne sie irrt er nun durch die von Orks besetzte Stadt Moavir. Gern hätte er den Groll über seine Niederlage an Lucien ausgelassen, doch dieser war bereits nicht mehr am Eingang des Portals. Sein Plan, Xenos durch Ayame aus Lamilias Bann zu befreien, ist mit seinem Scheitern ebenfalls misslungen. Eine zweite Chance wird er nicht bekommen. Doch aufgeben wird er dennoch nicht. Er hat immer alles bekommen, was er wollte. Das wird dieses Mal nicht anders sein.

Nekomaru kennt noch einen Weg, wie er Xenos zurückgewinnen kann. Damals, im Reich der Toten, hat Sangra, die Dämonenfürstin des Blutes und Schutzpatronin der Vampire, oft über ein Ritual geflucht, das einige Kleriker und Heiler beherrschen. Es befreit die Vampirdiener von ihrem Bann und verhindert so zugleich die weitere Vermehrung von Vampiren. Doch allein bei dem Gedanken daran reagiert Nekomaru mit Ablehnung. Das bedeutet, er ist auf die Hilfe eines Anhängers der Göttin Lydia angewiesen, der für ihn ein heiliges Ritual ausführt. Das widerstrebt allem, wonach er erzogen wurde. Er selbst weiß, dass er sich davon losgesagt hat, um einen eigenen Weg zu finden. Doch auf heilige Magie und die Kraft der Götter angewiesen zu sein, die Todfeinde der Dämonenwelt, widert den Jungen dennoch an. Es widerspricht den fundamentalsten Grundsätzen der Dämonen. Und egal was passiert, sie sind ein Teil von ihm und werden es bleiben. Dafür schämt sich Nekomaru nicht. Er ist sogar stolz darauf.

Dennoch wird ihm nichts anderes übrig bleiben. Er überlegt lange nach Alternativen, überlegt sogar in einer Bibliothek nach Lösungen zu suchen. Doch dazu müsste er erst einmal vernünftig lesen lernen. So würde es ewig dauern. Je länger er also nachdenkt, um so mehr kann er sich mit der Idee, einen Kleriker oder Heiler aufzusuchen, anfreunden. Doch es bleibt die Frage, wo er anfangen soll, nach solch einer Person zu suchen? Wenn er sich nur erinnern könnte, ob Sangra etwas über eine Region gesagt hat. Er könnte sich in der örtlichen Kirche erkundigen. Genervt wirft er den Kopf zurück. Darauf hat er keine Lust. Wieder schweift er in Gedanken ab. Will er nicht einfach seinen eigenen Weg gehen? Xenos ist selbst schuld an seiner Misere. Aber ohne Xenos ist Atra-Regnum verloren. Sangra würde gewinnen. Seine jetzige Heimat würde untergehen. Das ist auch nicht was er will. Nicht mehr. Somit entscheidet er sich schließlich doch für das kleinere Übel und macht sich auf den Weg zur Kirche.

Vor der Kirche Moavirs atmet er noch ein Mal schwer ein. Er spürt bereits, wie diese widerwärtige Aura des geheiligten Bodens und der heiligen Sakralien im Inneren des Gebäudes versucht ihn zu läutern. Er geht voran. Es ist derselbe Effekt, dasselbe Gefühl der unangenehm kribbelnden Haut wie in einem Bad in mannshohen Brennnesseln, welches er bereits all die Male zuvor gespürt hat, an denen er heilige Orte betreten hatte. Bisher jedoch immer mit dem Grund, alle sich darin versteckenden Lebenden zu töten. Schon damals hätte er realisieren müssen, dass er anders ist. Das hat er auch, doch er wollte es nie wahrhaben. Er war der Einzige im gesamten dämonischen Heer, der heilige Orte unbeschadet betreten konnte. Andere Dämonen wären in Sekunden verbrannt. Das Heer hätte Stunden oder Tage gebraucht, den Segen von den Orten zu entfernen, um an die Lebenden zu kommen. Aus diesem Grund schickte man Nekomaru. Und er erfüllte mit Freuden, was man von ihm dort erwartete.

Heute ist es anders. Und damit öffnet er die schwere, knartschende Tür und tritt ein. Vor ihm erstreckt sich die hohe Halle mit den bunten Fenstern, die dem Raum Licht spenden und den verschiedenen liebevoll geschmückten Altären all jener Götter, die man hier verehrt. Nekomaru kratzt sich am Arm und schaut sich um. Er ist allein. Dass nicht viele Leute hier sein werden, hatte er um die Mittagszeit erwartet, doch mit einem Priester oder Kleriker hatte er wenigstens gerechnet. Schließlich dreht er sich verwundert um und will die Kirche unverrichteter Dinge wieder verlassen.

„Mein Kind“, hallt es plötzlich durch die Halle. „Bist du nicht gekommen um zu beten, so suchst du nicht den Rat der Götter, sondern den Deinesgleichen, nicht wahr?“

Nekomaru erschreckt und dreht sich wieder um. Aus einer kleinen Kammer an der Seite tritt ein Mönch in den heiligen Raum. Nekomaru verkrampft leicht.

„Reiß dich zusammen“, denkt sich Nekomaru. „Du musst den Mann nicht mögen, um deine Frage zu stellen. Also stell deine Frage. Danach kannst du verschwinden.“

„Ich suche jemanden, der ein Ritual kennt, um Vampirismus zu heilen“, äußert sich der Junge.

Der Mönch wundert sich und kommt näher: „Dein Anliegen wiegt schwer. Das wusste ich sogleich, als du dich überwunden hast unser Haus zu betreten.“

Nekomaru unterbricht ihn misstrauisch: „Wer seid ihr?“

„Ich bin ein Diener Nefaris, unserer Göttin der Weisheit, doch fürchte ich, kann ich trotz dessen die Last deiner Frage nicht von dir nehmen. Das Ritual, welches du suchst, kenne ich. Doch kann ich es nicht wirken und kenne niemanden, der es kann. Nur wenige Begünstigte der Göttin Lydia, der Göttin der Kranken und der Heilung, haben die Gabe, den Worten und Taten des Rituals Wirkung zu verleihen.“

Nekomaru ist enttäuscht, fast schon erzürnt über die Worte des Mannes: „Dann habe ich hier nichts weiter verloren.“

„Verzage nicht, mein Kind. Du beschreitest den Weg des Guten. Dieser ist meist schwerer als alle anderen, doch wird dein Ziel dich mit der größten Seligkeit belohnen.“

Genervt verlässt Nekomaru die Kirche. Jedes Wort, welches er mit diesem Mann gewechselt hat, war purer Stress für ihn. Schlimm daran ist, dass es ihn ebenso kein Stück weitergebracht hat.

Doch seine schlechte Stimmung bleibt nicht lange bestehen. Ihm fällt eine weitere Idee ein, die er wünschte bereits vor diesem Besuch bekommen zu haben. Noah könnte hilfreich sein. Er ist ein Nephilim, ein Kind der Götter. Er ist nicht das Kind Lydias, aber Bahemars, dem Gott der Stärke. Das heißt nicht, dass er jemanden kennt, der das Ritual ausführen kann, aber es bedeutet, dass er eine gute Verbindung zu den Göttern haben muss. Vielleicht kann er seinen Vater direkt fragen. Nekomaru hofft nur, dass es für Noah nicht so schwierig ist, wie für ihn Heres zu erreichen. Da die Lebenden aber scheinbar überall Schreine für ihre Götter haben, an denen sie zu ihnen sprechen, schätzt er seine Chancen gut.

Einen Plan, wie er zurück zu Noah nach Inekoria kommt, hat er sich bereits überlegt. Nekomaru weiß, dass das Kaiserreich sehr groß ist, Inekoria im Osten des Kaiserreiches liegt und Moavir an der Westgrenze. Damit steht fest, dass er gern mit einem Teleportstein reisen würde. Xenos hat ihren Stein jedoch mit sich genommen. Hieraus folgt wiederum, dass er anders an einen Stein kommen muss. Er muss also nur herausfinden, wer einen Teleportstein hat. Also entschließt er sich, am Teleportsigill der Stadt darauf zu warten, dass jemand in der Stadt ankommt.

Das passiert leider nicht allzu oft. Das Reisen durch Sigille ist privilegierten Leuten vorbehalten. Leuten wie Regierungsbedienstete, hochrangige Magier und Eilboten, seltener auch Adlige, Begünstigte oder Abenteurer. Militärischen Einheiten oder gar ganzen Armeen oder Händlern ist es sogar verboten. Prinzipiell kann aber jeder, der einen Teleportstein besitzt, mit ihm reisen. So gibt es auch manche, die einen Teleportstein erben, ihn stehlen oder auf dem Schwarzmarkt erwerben. Ihn einfach zu stehlen ist Nekomarus Plan.

In den späten Abendstunden ist es schließlich soweit. Das Reisesigill leuchtet auf und ein wohlgekleideter Mann und zwei weiteren Personen erscheinen. Sie sehen wichtig aus. Für Nekomaru sind sie sogar sehr wichtig. Sie sind seine Möglichkeit, von hier zu entkommen. Unauffällig folgt er ihnen durch die Straßen bis zu einem Gasthof am Rande der Stadt. Der Junge wartet eine Weile vor dem Eingang, dann geht auch er hinein. Im Untergeschoss befindet sich eine typische Schenke. Die meisten Tische sind besetzt. Zwei junge Schankmädchen bedienen die Kundschaft, während der Wirt hinter der Theke steht. Nekomarus Ziele sind jedoch nicht mehr zu sehen. Vermutlich haben sie für die Nacht ein Zimmer bezogen. Schnell schleicht er sich um die Tische hindurch Richtung der Zimmer.

Kurz bevor er in den nächsten Gang verschwinden kann, konfrontiert ihn eines der Schankmädchen. Die hübsche Dame mit den langen, blonden Haaren und der weißen Schürze beugt sich zu ihm hinab.

„Wen haben wir denn da?“, fragt sie. „Du bist aber kein mir bekannter Gast.“

Schnell sucht Nekomaru eine Ausrede: „Ich wollte gern hier übernachten.“

„Du allein?“

„Ja“, schaut Nekomaru traurig. „Mein Papa ist Händler, aber ich habe ihn heute verloren. Ich habe ihn den ganzen Tag gesucht. Aber langsam ist niemand mehr auf den Straßen und es wird unheimlich. Und da wusste ich nicht wohin.“

Das Mädchen glaubt dem kleinen Jungen: „Das hört sich schrecklich an. Du armes Kind! Warum hast du nicht früher nach Hilfe gefragt? Das bekommen wir schon wieder hin. Warte einen Moment hier, in Ordnung?“

Nekomaru nickt hoffnungsvoll.

Das Schankmädchen macht sich auf zum Thresen.

„Das war einfach“, denkt sich Nekomaru ungläubig.

Er beobachtet das Mädchen, wie es mit dem Wirt spricht. Sie reden eine Weile, dann deutet sie in Nekomarus Richtung. Der Wirt schaut ihn an. Noch einmal schaut Nekomaru verloren und traurig durch den Raum. Dann reicht der Wirt dem Mädchen einen Schlüssel über den Thresen und sie kommt zu dem Jungen zurück.

„Ich habe meinem Vater erzählt, was dir passiert ist“, redet sie beruhigend auf Nekomaru ein. „Er sagt, du kannst heute Nacht hier bleiben. Morgen suchen wir gemeinsam deinen Papa.“

„W-wirklich?“, spielt Nekomaru sein Spiel weiter.

„Ja“, nickt das Fräulein, nimmt seine Hand und führt ihn zu seinem Zimmer. „Jetzt kannst du dich erstmal ausruhen. Wenn etwas ist, melde dich bitte bei mir.“

„Vielen Dank, das ist so nett!“

Die junge Dame streicht dem Kind noch einmal über die Haare, bevor sie sich verabschiedet und ihn verlässt.

Schnell öffnet Nekomaru die Tür und verschwindet im Zimmer. Ein unheimliches Grinsen zieht sich über sein Gesicht. Er beginnt leise zu kichern. Seine Freude ist groß. Diese spontane Lüge hat besser funktioniert als Nekomaru gedacht hätte. Er fühlt sich gut. Er hat dieses gewisse befriedigende Gefühl. Dasselbe, welches er nach einem gelungenen Mord verspürt. Nur sanfter, nur seichter.

Sein Zimmer ist simpel eingerichtet. Es ist klein, hat gerade genug Platz für ein Bett und einen kleinen Tisch mit Stuhl am Bettende. Ein Fenster bietet ihm Ausblick in den Hinterhof. Nekomaru bleibt eine Weile hier. Er lauscht an der Tür. So würde er mitbekommen, wenn jemand geht. Solange niemand geht, kann er sich sicher sein, dass seine Opfer in einem der anderen Zimmer sind.

Irgendwann beginnen Nekomarus Augen zuzufallen. Er hat in der letzten Nacht nicht geschlafen. Schon seit dem Mittag plagt ihn die Schläfrigkeit. Vor dem Reisesigill wäre er mehrfach beinahe eingeschlafen. Bevor er sitzend, an der Tür lauschend einschläft, entschließt sich Nekomaru, den Teleportstein jetzt zu holen.

Langsam öffnet er die Tür und schleicht hinaus. Vorne in der Schenke ist es ruhiger geworden. Dennoch kann man einige Stimmen vernehmen. Vorsichtig horcht er an jeder Tür und versucht sie zu öffnen. Alle Türen sind verschlossen. Er hört ebenso keinerlei Geräusche. Der Junge entschließt sich, es von der anderen Seite zu versuchen. Die Zimmer haben sicher ein Fenster.
Mit Leichtigkeit klettert Nekomaru aus seinem Fenster in den Hinterhof. Leise schleicht er von Fenster zu Fenster. Schließlich findet er, wonach er gesucht hat. Er versucht das Fenster zu öffnen, doch auch dieses ist verschlossen. Einen Moment überlegt der Blondhaarige, wie er noch in die Zimmer gelangen könnte. Dann entscheidet er sich aber doch für die direkte Art.

Der Junge zieht sich seine Kapuze über und beschwört seine Sense. Mit einem kräftigen Schlag mit dem Schaft zerstört er das Fenster und springt ins Zimmer. Die Leute im Inneren wachen auf. Es bricht Tumult aus. Nekomaru lässt sich nicht beirren. Mit wenigen gezielten Hieben macht er die Drei nieder. Schnell durchsucht er die Robe des Mannes, den er beim Einstecken des Teleportsteins beobachtet hat. Bereits einen Griff später hat er das gewünschte Objekt in seinen Händen. Er horcht. Auch vorne in der Schenke scheint Aufruhr entstanden zu sein. Dann vernimmt er das Schließen eines Schlüssels an der Tür. So schnell wie er durch das Fenster kam, verschwindet er auch wieder durch dieses. Zum Abschluss schlägt er das Fenster seines Zimmers ein, bevor er sich schnellen Fußes, beflügelt von der Leichtigkeit seiner Glücksgefühle, davonstiehlt.

Er verschwindet jetzt direkt von hier. Sobald festgestellt wird, dass der Teleportstein seiner Opfer verschwunden ist, werden sie sicher jeden kontrollieren, der auf diesem Wege die Stadt verlassen will. Die Straßen sind leer. Nekomaru hat leichtes Spiel, ungesehen bis zum Reisesigill zu kommen. Der Junge umschließt den Stein mit seinen Händen und denkt an Inekoria. Bereits im nächsten Moment ist er fort.


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 01.07.2019
Zuletzt bearbeitet: ———-
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