Kapitel 13 – Kampf der Titanen

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„Rühr sie nicht an!“, schreit plötzlich eine bekannte helle Stimme hinter Nidhörun, welcher Kurojoshi noch immer an den Haaren emporzieht.

Erzürnt dreht er sich um. Nekomaru steht ihm ohne sichtbare Verletzungen gegenüber – seine Dämonensense fest umschlossen.

Mürrisch ruft der Fürst: „Wie kannst du immer noch stehen?“

In Nekomarus ernstem Gesichtsausdruck zeichnet sich ein finsteres Grinsen ab. Die Iyasuneko, der pelzige Katzendämon, um seinen Hals leistet hervorragende Arbeit. In kürzester Zeit hat sie seine normalerweise tödlichen Verletzungen geheilt. Der Junge geht zum Angriff über. Mit ungeheurer Geschwindigkeit nähert er sich seinem Gegner.

„Dann spielen wir noch einen Moment länger“, meint Nidhörun. „Ich habe wirklich gedacht, es wäre schneller vorbei. Xenos und Ayame werde ich wohl nicht mehr einholen können. Aber euch eine Lektion zu erteilen, lasse ich mir nicht entgehen.“

Kurz bevor Nekomaru ihn erreicht, schwenkt er Kurojoshi zwischen sich. Der Junge ist gezwungen, den Angriff abzubrechen. Schnell orientiert er sich um, umrundet den Fürsten und holt Schwung. Erneut bringt Nidhörun Kurojoshi zwischen sich und Nekomaru. Mit einer Rolle zur Seite lenkt Nekomaru seine Sense um und lässt sie knapp über den Boden gegen den alten Mann schwingen. Dieser setzt zum Sprung an, weicht dem Sensenblatt aus und landet auf diesem. Mit seinem Gewicht drückt er es zu Boden. Seine restliche Schwungenergie nutzt Nekomaru geschickt, schlägt ein Rad und tritt dabei seinem wesentlich größeren Kontrahenten in den Schritt.

Schmerz zieht sich durch den gesamten Körper des Dämonenfürsten. Er wankt zurück. Schon muss Nidhörun einem weiteren schnell getakteten Angriff des Jungen ausweichen. Dieser nutzt seine Sense im Anschluss als Sprunghilfe. Er katapultiert sich in die Luft und fliegt über den Kopf seines Gegners. Dabei zieht er seine Waffe nach. Gerade noch rechtzeitig schafft es Nidhörun, sich unter der Klinge wegzubeugen. Danach bringt er Kurojoshis Körper wieder zwischen sich und den Blondhaarigen. Mit dem gleichen Manöver bringt sich Nekomaru wieder in die Luft. Doch statt seine Sense nachzuziehen, lässt er sie los. Er platziert einen gezielten Schlag mit seinen Fingerknöcheln in Höhe von Nidhöruns Ellenbogen. Der Junge trifft die anvisierte Nervenbahn. Unmittelbar verliert der Dämonenfürst den Griff um Kurojoshis Haare und die junge Hohepriesterin fällt zu Boden.

Schnell bringt das Mädchen Raum zwischen sich und ihren Feind. Auch Nidhörun baut Abstand zu Nekomaru auf, nun da sein menschliches Schutzschild verloren ist.

„Wir sind also wieder auf Ausgangsposition“, kichert Nidhörun trotz seiner Verletzungen amüsiert. „Nur damit ihr es wisst, ich habe noch immer nicht einmal angefangen. Lasst uns mit einem anderen Ansatz fortfahren. Eine Spezialität meiner Domäne der Täuschung und Manipulation.“

Sein wahnsinniger Blick wandert zu Kurojoshi. Diese erhebt sich wortlos und wendet sich Nekomaru zu. Aus ihren Ärmeln zückt sie blitzschnell zwei Beschwörungspapiere und wirft sie vor sich.

Mit monotoner Stimme spricht sie: „Bakudan Neko, kommt und dient eurer Meisterin.“

Zwei kleine rundliche Katzendämonen erscheinen und beginnen auf Nekomaru zuzurollen. Im selben Augenblick springt die Iyasuneko vom Jungen ab und läuft hinüber zu Nidhörun. Der Heilungsdämon wickelt sich um seinen Hals und langsam regenerieren sich sein Gesicht und sein Rücken. Dann beginnen auch die riesigen Katzenstatuen, die den Marktplatz vom Rest der Stadt abschirmen, wieder im Boden zu versinken. Auf der anderen Seite brennt der Kampf. Katzen- und Hundedämonen liefern sich eine erbitterte Schlacht. Wenige Menschen sind noch unter ihnen. Einige starke Soldaten leisten noch immer erbitterten Widerstand.

Der Blondhaarige weicht alarmiert zurück: „Kurojoshi? Was tust du?“

Nidhörun lacht laut auf: „Die kleine Priesterin steht nun unter meiner Kontrolle. Sie wird jeden Wunsch für mich erfüllen.“

Schon muss Nekomaru den anrollenden Bakudan Neko ausweichen. Mit einem Salto in der Luft kann er der ersten kugeligen Katze entkommen. Diese dreht sich jedoch sofort wieder in seine Richtung und ist so bereits unter ihm, als er landen muss. Geschickt möchte er den Katzenball von sich forttreten. Doch als er ihn mit seinem Fuß berührt, gibt es eine gewaltige Explosion. Ein Schmerzensschrei entweicht dem Jungen, als er zurück in die Luft geschleudert wird. Die Explosion hat sein halbes Bein zerfetzt und die zweite Sprengladung ist fast bei ihm.

„Kurojoshi!“, ruft der Blondhaarige verzweifelt.

Kurz darauf zerreißt es auch die andere Katzenbombe, noch bevor sie Nekomaru erreicht. Kurojoshi verharrt regungslos. Doch man sieht ihr große Anstrengung an.

„Was?“, reagiert Nidhörun entsetzt. „Sie widersetzt sich meiner Kontrolle? Meine Mesmerisierung ist unfehlbar! Sie ist stärker als die jeder anderen Kreatur, seien es Succubi, Vampire oder sonst etwas!“

Kurojoshi atmet schwer und befreit sich schließlich aus der Manipulation durch den Dämonenfürsten.

Nidhörun wendet sich scheinbar wissend Nekomaru zu: „Nur mein Sohn ist annähernd ein Mesmer meines Levels. Doch das kann nicht sein. Du spielst unfair! Deine Fähigkeiten sind doch noch gar nicht erwacht. Du hast mich getäuscht. Das Mädchen ist deinem Charme längst verfallen. So konntest du meine Kontrolle brechen.“

Der Junge hält sich verzweifelt seinen zerfetzten Fuß, während sich seine und Kurojoshis Blicke treffen.

Der Dämonenfürst kichert: „Und ich dachte, dein persönliches Interesse galt dem schüchternen, blonden Heilerjungen aus den Winterwaldfjorden, den du so selbstlos in Schutz genommen hast.“

Nekomaru würdigt ihn keiner Antwort. Weder will er dem Dämonenfürsten irgendeine Art weitere Angriffsfläche bieten, noch versteht er, was dieser von ihm will. Aus seiner Sicht hat er rein gar nichts getan. Doch Fakt ist, Kurojoshi hat sich aus dem Bann des Fürsten befreien können. Sofort entzieht sie Nidhörun die Heilung durch die Iyasuneko. Der Fürst versucht noch, nach der kleinen Wieselkatze zu greifen, doch sie entkommt und spurtet hinüber zu Nekomaru. Sofort nimmt Nidhörun die Verfolgung auf. Der Junge versucht, von der auf ihn zukommenden Bedrohung fortzurobben.

Kurz bevor Nidhörun nach dem Jungen greifen kann, ruft eine ihm nicht unbekannte Kinderstimme über den Platz: „Halt!“

Nidhörun hält tatsächlich inne und die Iyasuneko legt sich ungehindert wieder um Nekomaru. Die Blicke aller drei wandern den Marktplatz hinauf zur abzweigenden Straße Richtung Tempel. Dort steht ein weißhaariger, sonnengebräunter Junge, der allen Anwesenden nicht unbekannt ist. Seine Haare wehen in der leichten Briese und die dunkelgrünen Augen des Zwölfjährigen spiegeln Entschlossenheit wider. Er trägt eine weiße mittellange, aber weite Baumwollhose zusammen mit einem überlappenden Baumwolloberteil, einem Uwagi. Seine Handgelenke sind in Verbände gewickelt.

Der Dämonenfürst setzt ein breites, interessiertes Grinsen auf: „Wenn das nicht Noah ist, der Nephilim von Bahemar mit der Göttergabe der Stärke. Was für ein Wiedersehen! Seit ihr Gören meinen Zirkus zerstört habt, habe ich nichts mehr von dir gehört. Ich sehe, dir scheint es gut zu gehen.“

Mutig ruft der junge Inekorier seinem ehemaligen Peiniger entgegen: „Ich habe mein von Bahemar auferlegtes Schicksal akzeptiert und werde meine Kraft nutzen zu verteidigen, was mir wichtig ist. Ihr zerstört mein Zuhause und bedroht meine Familie und meine Freunde. Ich fordere Euch auf, Inekoria zu verlassen.“

Nidhörun pustet laut aus: „Du bist noch immer ein höflicher junger Mann. Aber du legst dein Schicksal in die Hand eines Gottes, der noch nie etwas für dich getan hat, nur weil du erfahren hast, dass du sein Nephilim bist? Er wird dich nicht beschützen. Klug wäre gewesen, von hier zu verschwinden, solange du die Möglichkeit dazu hattest, Götterbrut.“

Der Gesichtsausdruck des Dämonenfürsten verfinstert sich. Er lässt von Nekomaru ab. In gerader Linie schreitet er auf den Weißhaarigen zu. In Noah steigt die Angst auf. Er weiß, dass er einem Dämonenfürsten selbst mit all seiner Kraft nicht gewachsen ist. Doch er konnte Kurojoshi und Nekomaru beschützen. Sofort reagiert die Hohepriesterin, um nun Noah zu schützen. Sie aktiviert erneut die riesige Katzenstatue, die den Platz gen Norden blockiert. Der gewaltige Fels erhebt sich aus dem Boden und trennt Nidhörun und Noah voneinander.

Der Dämonenfürst lässt sich jedoch nicht beirren. Vor der Blockade angekommen, ballt er seine Faust und demonstriert einen Funken seiner wahren Kraft. Mit einem einzigen Schlag zersprengt er die massive Statue in kleinste Teile. Der Versuch, ihn mit diesen Blockaden auf dem Platz zu halten, hat also von Anfang an nichts gebracht. Hätte er gewollt, hätte er den Markt jederzeit verlassen können. Das versetzt Kurojoshi einen schweren Schlag. Ihre Verzweiflung wächst.

Noah indes ist auf der anderen Seite des Trümmerhaufens nicht mehr zu sehen. Amüsiert steigt Nidhörun über den Schutt, um sich zu vergewissern, dass der Junge die Flucht angetreten hat. Er schaut die Straße entlang hinauf zum Tempel. Plötzlich schnellt sein Blick zur Seite, als er den Nephilim aus einem der Häuser auf sich zu sprinten sieht. Schon steht der Junge neben ihm und entfesselt einen Schlag mit all seiner ihm zur Verfügung stehenden Kraft. Mit bloßer Hand fängt der Dämonenfürst die Faust des Weißhaarigen ab. Doch zum Lachen ist ihm nicht zumute. Er hat ihn unterschätzt. Auch wenn er Noahs Schlag abfangen konnte, so wird er von der ungeheuren Wucht nach hinten gedrückt und über den Erdboden geschoben. Sein Handgelenk bricht mit einem lauten Knacken. Nidhörun weicht zurück, den Schutthaufen empor. Dabei greift er sich einige größere Brocken der zerstörten Statue und wirft sie dem Jungen entgegen. Mit gezielten Hieben blockt er die Trümmerstücke und zerschlägt sie in noch kleinere Steinchen. Die harten Treffer gehen jedoch nicht spurlos an ihm vorbei. Der auf seiner Faust zurückbleibende Staub mischt sich mit dem Blut, welches aus der aufgeplatzten Haut quillt. Doch Noah ignoriert den Schmerz.

Wieder in Nahkampfreichweite, holt er zu einem weiteren Schlag aus. Diesen blockt Nidhörun nicht. Stattdessen greift er sich den ausgestreckten Arm des Jungen, bringt ihn aus dem Gleichgewicht und zieht ihn zu sich. Mit seiner anderen Faust verpasst er Noah einen kräftigen Schlag in die Magengrube. Der Junge ächzt, sein Atem bleibt stehen. Mit einem abfälligen Blick schleudert ihn der Dämonenfürst unsanft in Richtung von Kurojoshi und Nekomaru. Noah ringt um Luft, während er sich verkrampft den Bauch hält. Schnell kniet sich die junge Hohepriesterin vor ihn und versucht ihn zu beruhigen. Ihre Iyasuneko versucht Noah seinen Schmerz zu nehmen.

Plötzlich durchbricht ein heiteres Lachen die angespannte Situation. Es kommt von der gegenüberliegenden Seite des Schlachtfeldes aus Richtung der Hauptstraße zum Osttor. Von hier aus sind die Dämonen in die Stadt eingefallen. Schon betritt Kadesh, Dämonenfürst der Hunde, den Platz.

„Du spielst mit den Kindern und überlässt mir die ganze Arbeit, Shedus Hochburg dem Erdboden gleichzumachen?“, klingt er fast schon vorwurfsvoll.

„Als ob du, seit wir hier sind, einen Finger gerührt hast“, neckt ihn Nidhörun zurück. „Du schaust doch nur zu und kontrollierst, ob deine Schoßhündchen ihre Aufgabe gut verrichten.“

„Wohl wahr, aber ich habe Ayame auch nicht entwischen lassen. Apropos, wo sind die Kinder der Prophezeiung?“

Der Dämonenfürst der Verrücktheit kichert: „Ich habe mich vielleicht etwas zu sehr im Spiel mit meinem Sohn und seinen Freunden verloren.“

„Sangra wird enttäuscht sein“, schüttelt Kadesh den Kopf.

„Die alte Bluthexe soll sich nicht aufspielen. Ich tue uns einen Gefallen. Wir haben den Krieg doch fast gewonnen. Ayame nicht mehr in unserer Gewalt zu haben, macht die Sache doch nur noch spannender!“, freut sich Nidhörun.

Diese Worte lassen Kadeshs heitere Stimmung kippen. Sein Gesichtsausdruck verfinstert sich. Er zeigt seine Zähne wie ein angriffslustiger Wolf.

„Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“, schreit er in fast schon bellendem Rhythmus. „Ich wollte dir helfen, deinen Fehler wiedergutzumachen. Sangra hätte davon nichts mitbekommen. Sie wäre von ihrem geheimen Feldzug gegen den Kaiser im Permafrost Massiv zurückgekehrt und hätte von dieser Eskapade nie erfahren. Aber nun fällst du der Allianz erneut in den Rücken! Ist die Zerstörung der Welten nicht mehr dein Ziel? Sei es drum! Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, auch unsere Ziele zu vereiteln. Wir arbeiten zusammen, schon vergessen?“

Amüsiert zuckt Nidhörun mit den Schultern: „Ihr habt doch ohnehin nie geplant, mich mein Ziel erreichen zu lassen. Die Welten vernichten. Keiner von euch teilt diesen ultimativen Endzeitwunsch mit mir.“

Die Situation eskaliert. Mit einem wutentbrannten Kriegsschrei stürmt Kadesh auf Nidhörun zu. Aus seinen Fingern schießen messerscharfe Klauen. Die drei Kinder trauen ihren Augen nicht. Mit unmenschlicher Wucht rammt Kadesh seinen Bruder und denkt nicht daran abzubremsen. Während Nidhörun auf Kadeshs Körper einschlägt, schleift dieser ihn mit sich durch den Schutt, die Straße hinauf, bis sie schließlich vom Weg abkommen und durch die Wand eines Hauses brechen. Das Gebäude verliert an Stabilität und stürzt über ihnen zusammen. Die beiden gottgleichen Wesen wischen die herabfallenden Trümmer von sich wie kühlen Sommerregen und liefern sich einen erbarmungslosen Schlagabtausch in den Ruinen.

Gebannt von dem sich bietenden Bild, sammeln sich die Kinder in der Mitte des Platzes. Nekomarus Fuß ist vollständig regeneriert. Auch Noah geht es wieder besser. Nun kämpfen die Fürsten zwar gegeneinander, doch das ist keinesfalls besser. Wenn der Kampf weiter eskaliert, wird Inekoria oder das ganze Gebiet dabei große Kollateralschäden ertragen müssen. Sie sind die Schöpferwesen. Wenn sie wollen, bebt die Erde. Wenn sie wollen, entziehen sie allem Sein die Lebensgrundlage. Solch drastische Eingriffe würden zweifellos eine Intervention der anderen Dämonenfürsten und der Götter heraufbeschwören. Nur darum spielen sie in Natu nach den irdischen Regeln. Wer kann aber ahnen, was passiert, wenn sie untereinander kämpfen? Greifen sie wieder auf ihre eigenen Regeln zurück?

Mit diesen Bedenken sollte der Dämonenjunge gar nicht so falsch liegen, als Kadesh plötzlich beginnt, seine Größe zu verändern. Nicht nur das. Seine Hände werden zu Pfoten, in seinem Gesicht formt sich eine Schnauze und dichtes Fell sprießt durch seine Haut. Schließlich steht eine riesige, wolfsähnliche Kreatur über den Straßen Inekorias. Dämonenfürsten und Götter sind polymorph. In der Regel nehmen sie eine Gestalt an, die ihnen zusagt, können sie aber nach Belieben verändern. Sofort ändert auch Nidhörun seine Größe, um den Nachteil auszugleichen. Nun stehen zwei fast zehn Meter hohe Kampfmaschinen in den Mauern der Stadt und stolpern in ihrem Gerangel von Haus zu Haus. Sie reißen Dächer und Wände ein, als wären es Kartenhäuser, und stampfen sowohl Menschen als auch Dämonen mit ihren gigantischen Füßen unbeachtet in den Boden.

„Genug!“, bebt plötzlich eine mächtige Stimme durch die Stadt.

Ihr Ursprung liegt im Tempel im Zentrum Inekorias. Die Kinder erkennen die Stimme sofort. Sie gehört Shedu, Dämonenfürstin der Katzen und Schutzpatronin dieser historischen Stadt. Im selben Moment sieht man, wie zwei weitere gewaltige Kolosse emporwachsen. Einer davon ist in Gestalt eines zehnjährigen Mädchens mit langen, lockigen, weißen Haaren und Katzenohren. Sie trägt ein helles Kleid. Ein großer Schweif fegt über die Tempelanlage hinweg. Das ist eindeutig Shedu. Neben ihr steht eine Frau in blutrotem Gewand und roten, zu einem Zopf zusammengebundenen Filzlocken. Ihre saftig rosafarbene Haut ist mit aus Blut gemalten, verschlungenen Mustern verziert. Bei ihrem Anblick schrecken die Kinder zurück. Dort oben, neben ihrer vermeintlich Verbündeten Gottheit, steht Sangra, Dämonenfürstin des Blutes und Heerführerin der dämonischen Allianz gegen Natu, die Welt der Lebenden. Der Anblick der beiden lässt auch Kadesh und Nidhörun innehalten.

Sofort öffnet Kadesh sein Wolfsmaul, um die Geschehnisse zu rechtfertigen. Nun da Sangra vor ihnen steht, wird sie wissen, dass die beiden Xenos und Ayame entwischen lassen haben. Doch die Fürstin lässt ihn nicht zu Wort kommen.

„Nidhörun“, beginnt sie mit vorwurfsvollem Ton. „Du hast Ayame, die wichtigste Gefangene des Krieges, entwischen lassen? Und dein stümperhafter Versuch, sie wieder einzufangen, scheitert an ihnen?“

Mit ihren langen, spitzen, rot lackierten Fingern deutet sie hinunter zum Marktplatz auf Nekomaru, Kurojoshi und Noah.

„Er hätte Ayame aufhalten können. Stattdessen hat er sich lieber mit den drei Kindern beschäftigt“, legt Kadesh die Tatsachen auf den Tisch.

„Das hättet ihr wohl gekonnt, wenn ihr nicht beide vollkommen geblendet durch eure eigenen Motive gewesen wärt“, schimpft sie furios. „Kadesh, du hattest von Anfang an nur im Sinn, deiner Schwester Shedu zu schaden, indem du Inekoria zerstörst. Und du, Nidhörun, hast dich wie immer deinen einfältigen, kurzweiligen Interessen hingegeben. Ich werde euch beide bestrafen. Kadesh, obwohl Inekoria die Abmachung mit dir gebrochen hat, verbiete ich dir hiermit, die Stadt anzugreifen. Von dir, Nidhörun, verlange ich, dass du bis zum Ende des Sommers deine Spielwiese, die Winterwaldfjorde, endlich unter Kontrolle gebracht hast. Andernfalls erkläre ich unser Bündnis mit dir für nichtig und jemand anderes von uns wird sich um dein Gebiet kümmern. Ayame und Xenos übernehme ich ab sofort persönlich.“

Die Unzufriedenheit ist Nidhörun und Kadesh ins Gesicht geschrieben. Innerlich kochen sie vor Wut. Nicht nur aufeinander, sondern auch gegenüber ihrer Schwester Sangra. Was bildet sie sich ein, so mit ihnen zu reden. Als respektierte Führerin der Allianz der Dämonen hat sie sich bei ihnen noch nicht gänzlich bewährt. Doch die beiden scheinen ihr Urteil zu akzeptieren. Zähneknirschend beginnen sie, ihre ursprüngliche Form wieder anzunehmen und die Stadt zu verlassen. Auch ihr dämonisches Gefolge stellt die Kampfhandlungen ein und zieht aus den Straßen ab.

Kurojoshi ist glücklich. Inekoria bleibt verschont. Doch als Sangras Blick erneut auf die drei Kinder fällt, bleibt ihr kleines Herz noch einmal stehen.

„Meinetwegen, Inekoria bleibt vorerst verschont. Aber für euch drei habe ich auch noch eine Bestrafung. Vom Tempel aus setzt sich die Dämonenfürstin in Richtung Marktplatz in Bewegung.

Doch Shedu greift sie ruckartig am Arm: „So war das nicht abgemacht. Ich habe dir erzählt, was du wissen wolltest und dich hier herkommen lassen. Aber nun verschwinde wieder aus meiner Stadt.“

Sangra knirscht mit den Zähnen, als sie ihren Schritt wieder zurücksetzt. Ihr letzter Blick trifft Nekomaru.

„Wir werden uns wiedersehen, kleiner Verräter“, droht sie ihm. „Ich verspreche dir, dann erhälst auch du die passende Strafe.“

Mit jenen Worten nehmen nun auch Shedu und Sangra ihre ursprüngliche Form wieder an. Und plötzlich herrscht Stille. Stille, wie es sie in einer belebten Stadt nicht geben sollte. Die Kinder schauen sich an. Sie wissen, dass sie für den Moment gesiegt haben. Der Krieg ist jedoch noch nicht vorbei. Dennoch sind die drei erleichtert. Nur knapp sind sie und Inekoria der totalen Vernichtung entkommen. Über Kurojoshis Gesicht rinnen Freudentränen, als sie endlich Erleichterung verspürt. Auch Noah und Nekomaru atmen auf. Im Gedächtnis des Blondhaarigen klingen jedoch die Worte des Geisterjungen Yuki wider. Für ihn ist der Tag noch nicht vorbei. Zum selben Zeitpunkt kämpft Xenos um ihr Zuhause, die Nekropole Falkenbach. Wenn er jetzt aufbricht, wird er ihm bei Einbruch der Nacht wieder beistehen können.

„Es tut mir leid, was passiert ist“, entschuldigt sich Nekomaru bei Kurojoshi. „Ich hoffe, eure Stadt wird sich schnell von dem Angriff erholen. Aber ich sollte nun aufbrechen. Xenos wird meine Hilfe sicher auch noch brauchen.“

Mit diesen Worten verabschiedet er sich und will in Richtung Reisesigill auf dem Tempelplatz aufbrechen. Schnell greift Kurojoshi seine Hand und umschließt sie fest. Diese Geste lässt Noahs Blick schwermütig zu Boden wandern.

Mit leisen Worten verabschiedet sich Kurojoshi: „Ich danke dir, dass du geblieben bist und für uns gekämpft hast. Das werde ich nicht vergessen. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.“

Zaghaft nähert sich die Hohepriesterin ihrem Gegenüber. Nekomaru verharrt regungslos. Dann berühren ihre warmen Lippen die weiche Wange des Blondhaarigen, bevor sie sich nach einem kurzen Augenblick wieder lösen. Verlegen lässt sie seine Hand zum Abschied los und schenkt ihm ein Lächeln. Nekomaru hingegen reagiert vollkommen überfordert. Er schaut zwischen Kurojoshi und Noah hin und her und stammelt etwas vollkommen Unverständliches. Dann hebt er seine Hand für einen halbherzigen Wink und läuft so schnell er kann in Richtung Tempel davon.


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 15.07.2021
Zuletzt bearbeitet: ———
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