Um nach Hause zu gelangen, reist Xenos über Volar. Die Stadt war und ist erster Anlaufpunkt für die Flüchtlinge aus der Kaiserstadt. Überfüllte Straßen hinter der Stadtmauer, aber auch die riesige Zeltstadt außerhalb hinterlassen Eindruck. Egal welchen Standes die Leute noch vor wenigen Tagen waren, nun leiden sie alle Armut und vor allem Hunger. Mehrmals wird Xenos um Hilfe gebeten, obwohl er äußerlich selbst kaum in besserem Zustand ist. Er schlägt sich durch bis zum Reisesigill. Von hier aus teleportiert er sich mit seinem Stein nach Schloss Hohenstein. Die kleine Stadt des Schlosses ist der nächstgelegene Reisepunkt auf seinem Weg nach Menoria, seinem Heimatdorf.
Der Junge landet auf dem kleinen Marktplatz, welcher das Zentrum bildet. Um ihn herum stehen wenige bürgerliche Häuser, bevor die massive Mauer einen Abschluss bildet. Eine weitere Mauer trennt das eigentliche Schloss vom überschaubaren Stadtkern. In vergangenen Zeiten war das Schloss eine starke Festung, die Feinden, die vom südlichen Seeweg ins Kaiserreich eindrangen, Widerstand bot. Das ist jedoch schon lange her. Nach dem letzten großen Krieg vor über einhundert Jahren wurde die Festung umgebaut. Im hinteren Teil entstand das Schloss, während der Hauptteil der Anlage als kleine Stadt genutzt wurde. So wurde die Burg nur wenige Jahrzehnte später zur heutigen Schlossstadt.
Sofort nach der Ankunft des jungen Nekromanten kommen die ersten Bewohner zum Markt um zu schauen, wer dort angereist ist. Durch das Sigill der Stadt kommen nur selten Leute. Eigentlich ist Schloss Hohenstein zu klein, um ein eigenes Reisesigill zu besitzen. Zumal die um einiges größere Stadt Arakin im Westen auch ein Sigill besitzt.
„Xenos!“, ruft eine ältere, beleibtere Frau.
Die lockige Dame erkennt den Jungen und kommt auf ihn zu. Nach dem Verschwinden von Ayame vor drei Jahren gelangte Xenos zu trauriger Berühmtheit in der Region. Auch sein Aufbruch in die Kaiserstadt hat sich daher im Umland schnell herumgesprochen. Und natürlich hat sich der Niedergang der wichtigsten Stadt Atra-Regnums auch wie ein Lauffeuer über den Kontinent verbreitet.
Erleichtert seufzt sie auf: „Du bist zurückgekehrt. Wie schön! Wir dachten, du wärst in der Kaiserstadt umgekommen.“
Immer mehr Menschen finden sich ein und erkennen ihn. Sie alle begrüßen den Jungen herzlich zurück in der Heimat. Den vielen lächelnden Gesichtern ist ihr Glück anzusehen. Gleichzeitig wird er mit Fragen überhäuft. Wie geht es ihm? War er in der Kaiserstadt, während des Angriffs? Hat er den Kaiser getroffen? In diese Fragen mischen sich Fragen zu Gerüchten, die der Junge bestätigen oder widerlegen soll. Wurde der Kaiser tatsächlich gefangen genommen? Gab es einen Verräter? Xenos fühlt sich unwohl umringt von so vielen Leuten. Er hat weder Zeit noch Lust, sich jetzt mit allen zu unterhalten. Zusätzlich verspürt er, trotz der Blätter des Propheten, noch leichte Schmerzen.
Schließlich rennt er einfach los und durchbricht die Menschentraube: „Ich … muss zu meiner Mama!“
Die Leute lassen ihn ziehen. Sie schauen ihm verwundert nach. Ihr Lächeln verschwindet und ein Raunen geht durch die Menge. Worüber sie sprechen, bekommt der Junge nicht mehr mit.
So schnell er kann, rennt Xenos hinunter ins benachbarte Menoria. Er hofft inständig noch rechtzeitig anzukommen. Es darf noch nicht zu spät sein. Er muss sie retten. Die Dämonen aus seiner Vision werden sie nicht bekommen! Nach dem Passieren der Dorfgrenze schaut er sich kurz um. Es herrscht reges Treiben. Auch hier erkennt man ihn sofort wieder. Erneut bekommt der Junge dieselben Fragen gestellt. Xenos lässt sich jedoch nicht beirren und läuft geradewegs weiter zum Anwesen. Völlig außer Kräften kommt er schließlich vor seinem Haus an. Das zweietagige Fachwerkhaus liegt etwas abseits des Dorfes. Sollte etwas passieren, bekämen es die Dorfbewohner höchstwahrscheinlich nicht einmal mit. Der Nekromant schaut sich genau um. Schließlich geht er zur Tür und klopft. Niemand öffnet. Besorgt klopft er erneut.
„Hallo?“, ruft der Junge laut.
Plötzlich hört man ein leises, undefinierbares Geräusch von innen. Ein Schlurfen? Einen Moment später öffnet sich langsam die Tür. Langes, lockiges, braunes Haar zeigt sich. Danach ein Gesicht und schließlich der Rest einer Person. Seine Mutter, Azarni, schaut heraus. Im ersten Moment ist Xenos erleichtert. Doch sofort fällt ihm das verweinte Gesicht seiner Mutter auf. Noch bevor er etwas sagen kann, schlägt sie die Hand vor den Mund und sinkt vor ihrem Sohn auf die Knie. Schon findet sich der Junge in einer engen Umarmung wieder, bevor Azarni in Tränen ausbricht.
„Mama“, stammelt der kleine Xenos unbeholfen.
Azarni schluchzt: „Ich dachte, du wärst tot.“
„Mama“, klingt Xenos glücklich und erwidert die Umarmung.
Im Hintergrund auf dem Tisch sieht er den Brief liegen. Den Brief, welchen er bereits in seiner Vision gesehen hat. Seine letzten Zweifel an der Echtheit seiner träumerischen Vision verfliegen. Das lässt ihn den Moment nicht länger genießen. Sein Glück verfliegt, als er realisiert, was das bedeutet. Sie sind nicht aus der Gefahr.
Er löst die Umarmung: „Mama, wir müssen gehen!“
Azarni wischt sich die Tränen aus dem Gesicht: „Was? Warum?“
„Bitte Mama, wir müssen weg“, klingt er flehend. „Ich bin gekommen, um dich abzuholen.“
„Komm doch bitte erstmal rein“, meint Azarni beschwichtigend. „Wo sollen wir denn überhaupt hin?“
Ihm ist nicht wohl dabei. Doch der Junge folgt der Aufforderung seiner Mutter. Gemeinsam betreten sie das alte Anwesen. Die Eingangstür führt direkt in ein einladendes Wohnzimmer. Der große Raum wird durch die markanten, weinroten Polstermöbel im Zentrum geprägt. Ein kunstvoll verzierter Tisch aus dunklem Holz vervollständigt die Sitzgruppe. Auf ihm liegt der Brief aus Xenos‘ Vision. Der Junge schaut auf ihn hinab. Azarni schließt die Tür und kommt zu ihm an den niedrigen Tisch.
Seine Augen fixiert auf den Brief, knüpft er an die Frage seiner Mutter an: „Ich weiß es nicht, wo wir hin sollen. Aber wir können nicht hier bleiben! Was ist mit den anderen Nebraa-Residenzen?“
Azarni legt ihre Hände auf die Schultern ihres Sohnes. Sie spürt, wie aufgewühlt er ist. Behutsam drückt sie ihre gespitzten Lippen auf Xenos‘ schwarze Haare. Ein kleiner Kuss auf den Kopf.
Leise und schwermütig beginnt Azarni zu sprechen: „Nach dem Verschwinden deines Vaters habe ich die Häuser auf unbestimmte Zeit den jeweiligen Dienerschaften überlassen. Wir sind nie viel umhergereist. Ich habe ihnen erlaubt, dort frei zu leben. Sie müssen für ihren Unterhalt allerdings teilweise selbst aufkommen. Außerdem würde ich wirklich gern hier bleiben. Du magst es hier doch auch.“
Xenos lässt nicht locker: „Auf meinem Weg in die Kaiserstadt habe ich Gräfin Viktoria wiedergesehen. Was ist mit unserem früheren Hauptsitz, dem Anwesen in der Nähe ihres Schlosses?“
„Das existiert noch. Es steht jedoch seit einigen Jahren gänzlich leer. Die dortige Dienerschaft sah sich nicht imstande, dort zu bleiben. Der Unterhalt ist zu hoch und es liegt zu weit entfernt. Ich fürchte also, es ist derzeit unbewohnbar.“
Vorsichtig lenkt sie ihren Jungen zur Couch. Er kommt ihrem dezenten Hinweis nach. Beide setzen sich.
„Jetzt erzähl doch bitte erstmal“, ist Azarni interessiert, „wie es dir ergangen ist. Ich hätte dich niemals in die Kaiserstadt gehen lassen sollen.“
Xenos seufzt, beginnt dann jedoch zu erzählen: „Die Reise war, neben einigen Zwischenfällen, eigentlich gut verlaufen. Kurz nach meinem Aufbruch habe ich eine Händlerfamilie getroffen, dessen Sohn, Kumaru, von Banditen entführt wurde. Ich habe ihn gerettet und zurückgebracht. Er hat Freundschaft zu mir geschlossen und wir sind ein Stück zusammen weitergereist. In Buna kam es dann aber zu einem Zwischenfall. Du hast sicher davon gehört.“
Azarni ist erschrocken: „Du warst in Buna? Und ich hatte zu den Göttern gebetet, du wärst schon längst durch die Stadt gekommen, bevor es geschah.“
„Leider nicht“, setzt Xenos fort. „Aber das hätte keinen Unterschied gemacht. Der Angriff in Buna hat direkt auf mich gezielt. Sie haben auf mich gewartet.“
Seine Mutter schaut entsetzt: „Die Stadt wurde doch von Dämonen und Monstern aus dem Totenreich heimgesucht. Sie haben es wahrhaftig auf dich abgesehen?“
„Die Dämonen zielen offenbar auf die Herrschaft über Natu und alle Lebenden. Ayame und ich sind die Kinder der Prophezeiung. Wenn sie mich in ihre Gewalt bringen, geraten unsere Welten gänzlich aus dem Gleichgewicht. Das würde ihnen sehr entgegenkommen. Das habe ich aber erst viel später erfahren. Ein Prophet und Ignis, der Dämonenfürst des Feuers, haben mir all das erzählt.“
Azarni wird förmlich schwarz vor Augen: „Bei den Göttern, mein Junge! Das meinst du doch nicht ernst, oder?“
„Doch. Aber Ignis und der Prophet sind auf unserer Seite. Wer Buna und die Kaiserstadt angriff, war Heres, der Dämonenfürst der Erde und Bruder von Ignis.“
„Und Heres kennt dich?“
„Ja, scheinbar schon“, nickt Xenos. „Er scheint zu wissen, wer ich bin. In der Kaiserstadt habe ich gegen ihn kämpfen müssen, um dem Kaiser die Flucht zu ermöglichen.“
Fassungslos fasst sich seine Mutter an den Kopf. Sie hätte nie geahnt, in welches Abenteuer und vor allem in welche Gefahr sie ihren Jungen dort schickt.
Xenos erzählt weiter: „Aber Ignis hat mir geholfen und ich konnte fliehen. Doch auf dem Weg aus der Kaiserstadt bin ich dann noch auf einen verrückten Jungen getroffen, Nekomaru. Er behauptet, der Sohn von Heres zu sein, doch ist eindeutig ein Mensch. Daraufhin hat er mich mit seiner Sense angegriffen. Ich hatte es wirklich schwer, gegen ihn zu kämpfen, da seine Sense sämtliche magischen Energien und Kreaturen mit Leichtigkeit auslöscht.“
Azarni wird hellhörig: „Eine Sense mit solcher Kraft? Kann das sein?“
Die Magierin überlegt. Von solch mächtigen Artefakten gibt es einige Legenden. Zumeist werden sie als Dämonenwaffen bezeichnet. Ihre Existenz wird jedoch gelegentlich angezweifelt. Die Dämonenwaffen sind nicht verbreitet. Dass gerade jetzt ein derartiges Artefakt auftaucht, kann doch kein Zufall sein.
„Er besaß eine dämonische Waffe“, murmelt Azarni. „Und dennoch hast du es geschafft ihn zu besiegen?“
Xenos kratzt sich am Hinterkopf: „Nicht direkt. Ehrlich gesagt, habe ich verloren und wurde schwer verletzt. Doch der Prophet scheint mich gerettet zu haben.“
„Du hattest wirklich Glück“, meint seine Mutter und geht herüber zu einem gut gefüllten Bücherregal. „Gegen den Träger einer dämonischen Waffe hat ein normaler Sterblicher oft keine Chance.“
Sie nimmt ein Buch mit schwarzem Einband aus dem Regal. Mit der Hand fährt sie über den leicht angestaubten Buchrücken. Dann schlägt sie es auf. Das Buch erzählt von den Artefakten.
Azarni erzählt ihrem Sohn, was sie liest: Die dämonischen Waffen gehören zu den dämonischen Artefakten. Die Artefakte besitzen starke und gefährliche Kräfte, die weltliche Magie um ein Vielfaches übertrifft. Jedes Artefakt lässt sich einem Dämonenfürsten zuordnen. Sie waren es, die die Waffen einst schufen, um gegen ihresgleichen zu kämpfen. Die Fürsten schmiedeten hierfür einen Teil ihrer Macht und die Seele ihres stärksten Dieners zu einer einzigartigen Waffe. Eigentlich sollten die Artefakte versiegelt im Reich der Toten aufbewahrt werden. In alten Erzählungen tauchen sie jedoch immer wieder in Natu auf, wo sie in die Hände der Lebenden geraten. Sei es, weil ein Fürst einen Champion erwählte, aus Versehen oder anderen abwegigen Gründen. Darum nimmt man heute an, dass viele dieser Artefakte in unserer Welt verborgen sind. Ihre genauen Aufenthaltsorte sind jedoch vollkommen in Vergessenheit geraten.“
Xenos hört gespannt zu. Seine Mutter blättert weiter. Nach einigen Seiten stoppt sie erneut und legt ihren Finger auf den Text.
„Die Erzählungen sind vage“, überfliegt Azarni die Informationen. „Daher ist nicht viel über ihre Fähigkeiten bekannt. Eine Sense wird nur einmalig erwähnt, sonst ist sie gänzlich unbekannt. Die früheren Nekromanten wussten von einem Schwert und einem Hammer. Eine Legende erzählt, dass einst ein starker und mutiger Nekromant das Schwert zu seinem machte. Er stellte sich einem Dunkelelfen, welcher den Hammer besaß. Der Hammer hatte von dem als unglaublich stark geltenden Elfen Besitz ergriffen. Die Waffe kontrollierte sein Handeln. Es war geprägt von Aggression und Gewalt. In einem andauernden, schwierigen Kampf über drei Monde gelang es dem Nekromanten den Dunkelelfen aufzuhalten. Er nahm den Hammer an sich. Doch nicht um ihn zu behalten. Der Nekromant wusste, dass diese Waffen nur Schaden über die Lebenden bringen. Daher entschloss er sich, den Hammer, aber auch sein Schwert für die Ewigkeit zu versiegeln, fernab aller anderen.“
Xenos denkt laut nach: „Der Junge, Nekomaru, lebt noch. Er erinnert mich an den Dunkelelfen aus der Geschichte. Ich bin mir sicher, dass ich ihn wiedersehen werde. Das Schwert könnte mir helfen, ihn das nächste Mal zu besiegen.“
„Nein!“, wird Azarni ungewollt laut. „Das ist viel zu gefährlich! Hast du nicht aufgepasst? Wenn der Geist der Person zu schwach ist, ergreift die Waffe Besitz von seinem Träger.“
„Ich denke, das wird kein Problem sein“, meint Xenos selbstsicher.
„Ich weiß, dass dein Geist durchaus stark ist“, erwidert Azarni und schüttelt den Kopf. „Doch sogar die stärksten Zauberer oder selbst die besten Nekromanten, welche immer einen immens starken Geist besaßen, haben sich das nicht zugetraut. Dazu kommt, dass du immer noch ein Kind bist, dein Geist entwickelt sich noch. Er wird noch stärker. Vielleicht wirst du irgendwann bereit sein, aber nicht jetzt. Du überschätzt dich dieses Mal!“
Der Junge erhebt sich: „Aber Mama, …“
Mit einem lauten Krachen wird die Eingangstür plötzlich aus den Angeln gerissen und fliegt in den Raum. Zwei grässliche Dämonenfratzen schauen ins Innere. Sie haben humanoide Körper, stark behaart und mit Federn bestückt. Der Kopf eines entstellten, wilden Ebers mit schiefen Zähnen und ein schwarzer Rabenschädel glotzen den beiden entgegen.
„Hallo“, krächzt der Vogeldämon diabolisch.
Sie wollen gerade eintreten, als Xenos aufspringt und aus vollem Hals schreit: „Concursores fluctus!“
Eine gewaltige Druckwelle wird freigesetzt und rast auf die beiden Dämonen zu. Ein lautes Krachen ertönt, gepaart mit berstendem Holz. Sie werden mitsamt Türrahmen und einigen Teilen des Mauerwerks vom Haus fortgeschleudert.
„Wir müssen weg!“, ruft Xenos aufgeregt.
Azarni lässt das Buch fallen und läuft zu einem Fenster seitlich des Hauses. Schnell reißt sie es auf und schaut zu ihrem Sohn. Sie winkt ihn zu sich, bedeutet ihm, dass sie hier hinaus klettern und fliehen sollen. Doch gerade als sie ihren Fuß auf das Fensterbrett stellen will, taucht bereits der Schweinedämon auf der anderen Seite auf.
„Nicht wegrennen“, grinst er amüsiert, als würde er mit kleinen Mäusen in der Falle spielen.
Der Rabendämon tritt daraufhin bereits wieder Xenos gegenüber. Er entstaubt seine mit Krallen und Federn bestückten Arme.
„Du bist hier?“, kräht er zynisch. „Wir wollten eigentlich nur zu deiner lieben Mutter.“
Xenos macht einen Satz zurück: „Spiritus mouit.“
Der Junge schlägt vor sich und der Schlag überträgt sich auf seinen Gegner. Dieser krümmt sich leicht, aber bleibt unbeeindruckt. Er macht zwei Schritte nach vorn und packt Xenos am Arm. Mit Leichtigkeit hebt er den Jungen an und wirft ihn gegen das Bücherregal am Ende des Raumes. Azarni will schnell zu ihrem Sohn eilen, als sie von dem Dämonen auf der anderen Seite des Fensters gepackt wird.
„Du bleibst schön hier“, grunzt er. „Wir haben einen Auftrag.“
„Lass mich los, du Scheusal!“
Xenos hört den Ruf seiner Mutter. Sein Blick schnellt herüber. Er will sich aufraffen, doch kann sich vor Schmerz kaum rühren. Der Schmerz der Wunden aus dem Kampf mit Nekomaru. Er ist direkt auf ihnen gelandet. Die Wirkung der Medizin des Propheten ist schlagartig verflogen. Mit seinen starken Verletzungen kann er keinen langen Kampf führen. Das weiß der Junge genau. Er zögert daher nicht und beißt sich in einen seiner Finger. Er kneift die Augen zusammen. Sein Mundraum färbt sich rot. Dann hält er den Finger zu Boden. Blut tropft auf den alten gemaserten Holzboden. Als sich ein Sigil zu zeichnen beginnt, reagiert Xenos erleichtert. Zwei riesige Höllenhunde springen hervor und stürzen auf die Dämonen. Ihnen folgt ein Schwarm untoter Ratten und Mäuse. Ruppig und aggressiv attackieren die Hunde die durchaus starken Wesen des Totenreiches. An ihren dämonischen Gliedmaßen krabbeln die halb verwesten Rattenkadaver hinauf, beißen sich fest und reißen mit ihren Klauen tiefe Furchen ins Fleisch. Xenos hat getan, was er konnte. Seine starken Schmerzen lassen ihn nichts weiter ausrichten. Durch die Attacke von Xenos‘ Dienern schafft es Azarni sich wieder loszureißen.
Sie schreit ihrem Kontrahenten entgegen: „Painful lietus!“
Über dem Schweinedämonen am Fenster bilden sich lange, sehr dünne Nadeln, die beginnen auf ihn niederzuschießen. Sie dringen in seinen Körper ein, durchlöchern ihn. Dieses und die zusätzlichen Angriffe von Xenos‘ Dienern setzen ihm nun doch zu.
Er ruft seinem grässlichen Gefährten zu: „Das wird zu viel, mit so viel Arbeit hatte ich nicht gerechnet. Lass uns einen anderen Zeitpunkt abpassen.“
Der Rabe nickt. So schnell wie sie kamen, verschwinden sie sogleich auch wieder. Xenos ist erleichtert. Er ruft seine Diener zurück. Dann verliert er das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich im Bett seines Kinderzimmers. Ein stechender Schmerz lässt ihn über seine Wunden fahren. Seine Verbände wurden erneuert. Neben seinem Bett steht eine Schüssel sauberes Wasser. Er schaut sich in seinem Zimmer um. Es ist noch genau so, wie er es verlassen hat.
„Mama“, murmelt er besorgt.
Langsam kommen die Erinnerungen an den Kampf wieder. Sein Gesicht wird blass, als ihm bewusst wird, was passiert ist. Er hat Nekromantie verwendet. Verbotene Magie! Ihre Wirker werden mit dem Tode bestraft! Aber er hatte doch keine Wahl. Sie hätten ihn und seine Mutter getötet. Doch nun kennt sie sein Geheimnis. Ein Geheimnis, was nie jemand erfahren darf. In ihm steigt Todesangst empor. Er fürchtet sich vor der Verachtung, die ihm die Welt entgegenbringen wird. Malt sich die Konsequenzen aus, die ihn erwarten. Ein schrecklicher Tod auf dem Scheiterhaufen, dem er nicht entkommen kann. Die ganze Welt wird ihn suchen. Er kann nirgendwo mehr Zuflucht finden.
Er überlegt, was er tun kann. Er muss verhindern, dass sein Geheimnis an die Öffentlichkeit gerät. Egal zu welchem Preis. Sein Kopf ist leer. Ein düsterer Gedanke beginnt in den Vordergrund zu rücken. Er muss sie zum Schweigen bringen. Er muss sie töten. Nur so kann er seine Nekromantie sicher verbergen. Sofort schüttelt er den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Das kann er nicht. Er will es nicht. Doch gleichzeitig sieht er keinen anderen Weg. Der Gedanke nimmt so viel Raum ein, dass kaum eine andere Idee Gelegenheit bekommt sich zu manifestieren. Er kann nicht riskieren, dass sein Geheimnis aufgedeckt wird. Selbst wenn es das Leben seiner Mutter kostet. Er muss weiterleben. Allein um seiner Verantwortung als Kind der Prophezeiung gerecht zu werden.
Langsam richtet er sich in seinem Bett auf. Seine Schmerzen sind gelindert. Dann beißt er sich wieder in den Finger. Xenos lässt Blut zu Boden tropfen. Ein Sigil bildet sich und ein untoter Soldat steigt empor.
„Hör zu“, spricht er widerwillig zu seinem Diener, „ich befehle dir, meine Mama mit dir zu nehmen.“
Der Tote nickt.
Niedergeschlagen und bedrückt wankt der Junge langsam und leise die Treppe hinunter. Sein Diener folgt ihm unaufgefordert. Azarni arbeitet in der Küche, hat ihm den Rücken zugewendet. Neben ihr liegen bereits einige gerollte Mochis. Diese kleinen, klebrigen Reisbälle gefüllt mit süßen Bohnen oder Beerenmus sind Xenos‘ Lieblingsspeise. Azarni bereitet sie frisch für ihn zu. Leise summt sie dabei.
Xenos zögert. Er kann das nicht. Sie ist doch seine geliebte Mutter. Die einzige Familie, die er noch hat. Er hasst sich selbst für das, was gleich passieren wird. Vorsichtig betritt er die Küche. Noch immer scheint er unbemerkt zu sein. Seine untote Wache ist bereit für den Angriff.
Plötzlich spricht Azarni mit besänftigender Stimme: „Ah, Xenos mein Schatz. Du bist wach. Weißt du, egal was du tust und tun wirst, ich werde dich immer lieben.“
Dem Kind stockt der Atem. Weiß sie, was er geplant hat? Xenos ist verzweifelt. Er bringt es einfach nicht über sein Herz. Es ist ihm egal, ob sie es nun weiß oder nicht. Dann soll sie es eben verraten. Jeden anderen hätte er ohne zu zögern zum Schweigen bringen können. Nicht jedoch seine eigene Mutter. Sein Diener wankt langsam fort, zurück die Treppe hinauf ins Zimmer seines Meisters. Xenos hat ihn zurückbefohlen.
Der kleine Junge sinkt auf die Knie und beginnt bitterlich zu weinen: „Ich kann das nicht.“
Azarni dreht sich zu ihm um: „Oh, mein Junge. Was ist denn los?“
Schnell wischt sie ihre vom Reismehl klebrigen Finger am Küchentuch ab und kommt zu ihm. Sie geht in die Hocke und nimmt ihn in die Arme. Die Umarmung und die spürbare Nähe und Wärme seiner Mutter spenden ihm Trost. Dieses Gefühl bestätigt ihn in seinem Zögern. Er braucht sie. Er will nicht auf seine Mutter verzichten. Schlussendlich bleibt er eben immer ihr Kind. So wie sie ihn liebt, liebt er sie.
„Mama, ich kann das nicht“, schluchzt er. „Du hast es gesehen. Meine Magie. Ich bin ein Nekromant. Ich habe die Kräfte unserer Vorfahren geerbt. Es tut mir leid.“
Azarni drückt ihn fester. Dann sagt sie etwas, was Xenos nie für möglich gehalten hätte: „Ich weiß, mein Liebling. Das muss dir nicht leidtun. Du bist wie du bist. Und nur so bist du perfekt.“
„Was?“, erschreckt Xenos und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Woher weißt du davon?“
Lächelnd sagt sie ruhig: „Ich bin eine Mutter.“
Xenos schaut fragend zu ihr auf.
Sie gibt ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn: „Ich weiß, dass du nicht riskieren kannst, dass es jemand erfährt. Aber sei dir gewiss, bei mir ist dein Geheimnis sicher. Das war es jahrelang. Und ich bin so stolz auf dich. Das war ich immer.“
Geschrieben von: | Mika |
Idee von: | Mika |
Korrekturgelesen von: | May |
Veröffentlicht am: | 01.09.2016 |
Zuletzt bearbeitet: | 31.03.2023 |