Kapitel 5 – Das Geheimnis der Rhyl: Das alte Anwesen

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Auch wenn die Spur zu Ayame wieder verloren ist, so weiß Xenos immerhin, dass seine Schwester nicht an jenem Tag starb, der ihm in seiner Vision gezeigt wurde. Irgendwann werden sie sich wiedersehen. Davon ist der Junge überzeugt. Solange gibt es für Xenos allerdings keine Zeit zum Rasten. Es gibt noch viel zu tun. Nach dem Misserfolg in Moavir wendet er sich daher der Suche nach dem Dämonenschwert zu. So verschlägt es Xenos nach Dun, einem kleinen, alten Ort im tiefen und dichten Wald des Radonum Forstes, der Heimat der Dunkelelfen. Ein wenig abseits der aus den dunklen Steinen des Neavor-Gebirges erbauten Stadt soll, laut alten Karten, das Anwesen der ausgestorbenen Nekromantenfamilie Rhyl liegen. Dort erhofft er sich neue Informationen über das mächtige dämonische Artefakt. In seinem Buch wurden sie als letztes in Zusammenhang mit dem Schwert erwähnt. Xenos braucht eine Weile, um sich zu orientieren. Die Einwohner Duns beäugen ihn misstrauisch. Dunkelelfen stehen Fremden eher argwöhnisch gegenüber. Aber auch unter den eigenen Landsleuten ist Vertrauen ein seltenes Gut.

Trotz der unangenehmen Stimmung entschließt sich Xenos, erstmal eines der Gasthäuser aufzusuchen. Nicht nur um seinen großen Hunger zu stillen, sondern auch, um sich ein wenig umzuhören. Dass die Dunkelelfen trotz ihrer Unfreundlichkeit gegenüber Gästen Tavernen und Unterkünfte betreiben, mag paradox erscheinen. Der Grund hierfür liegt jedoch auf der Hand. Auch im Radonum Forst gibt es viele Reisende, seien es Händler, Abenteurer oder Tagelöhner.

Nach einer kleinen Mahlzeit beschließt Xenos, den Wirt um Informationen zu seinem Ziel zu bitten und begibt sich zum Tresen.

„Vielen Dank für das gute Essen“, verbeugt er sich vor ihm: „Ich habe noch eine kurze Frage, falls Ihr erlaubt. Könnt Ihr mir sagen, wo ich das Anwesen der Rhyl finde, welches in der Nähe liegen soll?“

Der Dunkelelf wirft ihm einen ungläubigen Blick zu: „Was willst du an so einem Ort? Ich glaube nicht, dass das was für dich ist. Dort ist es gefährlich. Das ist kein Ort zum Spielen.“

„Ich will dort nicht spielen“, rollt Xenos mit den Augen. „Ich suche nach wichtigen Informationen, die die Rhyl vor ihrem Ableben hinterlassen haben könnten. Es ist sehr wichtig, da es für die Rückeroberung der gefallenen Kaiserstadt eine große Rolle spielen könnte.“

Der Dunkelelf beginnt hämisch zu lachen: „Natürlich. Das Kaiserreich schickt ein kleines Kind, welches helfen soll, die Kaiserstadt zurückzuerobern. Die haben wohl niemanden mehr? Aber wenn es dir, dem kleinen schwächlichen Jungen, hilft, die ach so unbezwingbare Kaiserstadt zurückzuerobern, geh nur. Das Haus liegt westlich der Stadt. Mir käme es nur gelegen, wenn ihr eure Stadt zurück hättet. Dann könnte ich endlich meine Tochter wiedersehen. Schließlich kann sie dann die Grenzgarnison wieder verlassen, sobald all diese Flüchtlinge wieder heimkehren.“

Der junge Nekromant winkt genervt ab: „Was auch immer. Aber lasst mich Euch noch etwas mitgeben. Für Euch wären die kaiserlichen Flüchtlinge eher von Vorteil, wenn ihr sie nicht hinter den Grenzen aussperren würdet. Immerhin lebt Euer Geschäft von Leuten, die auf Reisen sind.“

„Da könntest du recht haben …“, grübelt der Wirt, als die Tür bereits in die Angeln fällt.

Xenos folgt der dürftigen Beschreibung des Dunkelelfen. Etwas außerhalb der Stadt wird er nach einer Weile fündig. Das Anwesen der Rhyl. Versteckt hinter einer zugewucherten Wegabzweigung liegt das alte, vermoderte Gemäuer. Vorsichtig und mit einem unguten Gefühl beschreitet Xenos den verwitterten Pfad und gelangt schließlich auf das Grundstück des Anwesens. Orte, an denen Magier lebten, sind oft mit zahlreichen Abwehrmechanismen, wie magischen Fallen oder Flüchen, belegt. So sollen Eindringlinge ferngehalten werden. Diese suchen nämlich oft nach den noch im Inneren verborgenen Schätzen, um sie an sich zu reißen. Besonders gefährlich sind hierbei die alten Häuser der Totenmagier, der Nekromanten. Während der Nekromantenverfolgungen erhöhten sie den Schutz ihrer Anwesen, welcher zuvor schon berüchtigt war. Niemand traut sich heutzutage auch nur ansatzweise in die Nähe solcher Orte. Dies ist auch der Grund, warum die früheren Anwesen einfach verfallen und viel Wissen über Totenmagie seither verloren gegangen ist. Nekromantenclans waren sehr geschlossene Gemeinschaften und ließen Fremde nie einen Einblick gewinnen. Vermutlich war das auch einer der Gründe für die allgemeine Angst der Bevölkerung vor den Totenmagiern und ihre spätere Auslöschung.

Bis zur moosbewachsenen Eingangstür gelangt Xenos ohne in Fallen oder Hinterhalte zu geraten. Vorsichtig drückt er die schwere Tür auf. Unter lautem, hallendem Quietschen tut sich vor ihm die tiefe Schwärze eines lichtleeren Raumes auf. Bevor er das unbekannte Gebäude betritt, zieht er einen dicken Ast in den Türrahmen. So will er sichergehen, dass ihm der Fluchtweg nicht abgeschnitten wird. Anschließend holt er seine leuchtende Kugel aus der Tasche, welche er von Guren in Erah erhalten hat. Mit vorsichtigen Schritten betritt er den Raum, welcher sich langsam erhellt. Es ist eine große, zweietagige Eingangshalle. Ein dreckiger, alter Teppich führt durch den Raum bis zu einer massiven Treppe, die links und rechts nach oben führt. Als Xenos weiter in die Halle hineingeht, die trotz der leisen Schritte jeden von ihnen deutlich hörbar hallen lässt, beginnt die Eingangstür plötzlich wieder zu quietschen. Blitzschnell dreht sich der Junge um und sieht die massive Doppeltür nur noch zuschlagen. Jedoch nur auf einer Seite. Die andere Hälfte stoppt an dem Ast, welchen Xenos ihr in den Weg gelegt hat. Xenos lächelt spöttisch. Eine so simple Falle kann ihn nicht aufhalten.

Vorsichtig erkundet er das Erdgeschoss, immer bereit, auf weitere Fallen zu reagieren. Raum für Raum schaut er sich um. Doch hier ist nichts. Gar nichts. Einen Moment zweifelt Xenos, ob er in diesem Haus überhaupt richtig ist. Als er den hohen, prunkvollen Speisesaal betritt, wird er sich jedoch bewusst, dass dies das richtige Anwesen ist. Die lange Tafel ist gedeckt und der gesamte Raum ist staubfrei. Plötzlich entflammt die goldverzierte Beleuchtung an den Wänden. Die Seitentüren springen auf und abgedeckte Silberplatten schweben von beiden Seiten zum Tisch, als würden sie von unsichtbaren Dienern getragen. Es ist jedoch niemand hier. Ein magischer Automatismus zum Servieren von Speisen? Scheinbar ist das ein Überbleibsel der magischen Mechanismen, die den Hausherren das Leben hier vereinfachen sollten. Dass dieser jedoch nach über zweihundert Jahren noch aktiv ist, ist wirklich erstaunlich. Dieser Raum gibt einen tollen Einblick, wie es hier früher im ganzen Haus ausgesehen haben muss. Xenos geht zur reichlich gedeckten Tafel. Neugierig hebt er eine der die Speisen verdeckenden Glocken von den Platten und rümpft die Nase. Das Essen auf der Platte ist lange verdorben und zersetzt. Lediglich eine schwarze, krümelige Masse ist übrig. Was dies einmal war, lässt sich nicht mehr bestimmen.

In diesem Moment wirft sich Xenos rasch unter den Tisch. Im selben Augenblick durchschlägt bereits ein riesiges Fleischerbeil die Tafel an Xenos‘ Stelle. Klirrend fällt die Silberglocke auf den Boden.

„Das hier ist also doch eine Falle“, denkt sich Xenos, während er schnell unter der Tafel hindurch auf die andere Seite krabbelt.

Als er wieder hervorkommt, blickt er seinen Gegner direkt an. Er starrt in die Augenhöhlen eines angsteinflößenden Skelettes. Es hat nichts weiter bei sich als ein scharfes Beil und eine alte, doch recht saubere Kochmütze. Das Skelett klappert dem Jungen mit seinem Gebiss bedrohlich zu und zieht das Fleischerbeil wieder aus der Tafel. Mit einem Satz springt es auf den Tisch. Das Geschirr fliegt zu allen Seiten und schellt zu Boden. Dann springt der Untote direkt auf Xenos zu. Mit einer Rolle zur Seite schafft es der Junge, dem Monster auszuweichen.

„Concursores fluctus“, ruft Xenos dem Skelett zu.

Dieses wird von einer Druckwelle erfasst und in einzelnen Knochenteilen an die Wand gefegt. Knochen, Geschirr und der Dreck undefinierbarer Speisereste liegen weit verteilt. Kurz atmet Xenos erleichtert durch, als die Knochen plötzlich beginnen sich zu bewegen. Sie ziehen sich zu einem Haufen zusammen. Knackend setzen sie sich von selbst wieder zusammen, bis das Skelett unversehrt aufersteht. Es bückt sich, hebt Beil und Kochmütze auf, und stürmt unbeirrt erneut auf den Jungen zu. Schnell dreht Xenos sich um und rennt durch eine der Seitentüren aus dem Saal. Schnell schiebt er einen alten Schrank vor den Durchgang. Erst dann schaut sich der Junge um. Er steht in der Küche. Es gibt einen zweiten Ausgang. Leise schleicht sich der Nekromant aus diesem zurück in den Flur, aus dem er kam, hin zur Vordertür in den Speisesaal. Ruckartig zieht er die Tür zu und verschließt sie. Schon einen Moment später poltert es aus dem Inneren heftig gegen sie. Staub rieselt von den Wänden zu Boden. Xenos atmet durch und versucht sich zu beruhigen. Das hätte böse enden können. Doch jetzt muss er weitermachen und beschließt, in der oberen Etage weiter nach Hinweisen auf das Dämonenschwert zu suchen.

Im Obergeschoss landet er zuerst in den Schlafgemächern. Die Betten und Wände sind sehr feucht. Der Boden scheint morsch und gibt leicht nach. In diesen Räumen scheint die Luftfeuchtigkeit übermäßig hoch zu sein. Xenos schaut sich im Zimmer um. Hier gibt es nicht viel, was ihm bei seiner Suche weiterhelfen könnte. Ein einzelnes Buch, abgelegt auf einem der Nachtschränke, weckt hingegen sein Interesse. Dämonologie Band 2. Ein Buch, randvoll mit Informationen über das Totenreich und seine Bewohner. Band 1 ist recht oft zu finden, aber der zweite Teil dieser Wissenssammlung ist mittlerweile ein wirklich seltenes Buch. Kurz blättert er das alte Werk durch. Es hilft ihm zwar nicht weiter auf der Suche nach Hinweisen zum Dämonenschwert, aber dennoch entschließt er sich, es mitzunehmen. Bei Gelegenheit wird er es lesen.

Gerade als er es in seiner Tasche verstaut, gibt der Boden unter ihm nach. Seine Füße brechen durch das morsche Holz in die Zwischendecke. Er verliert das Gleichgewicht und fällt nach vorn. Mit seinen Händen fängt er sich auf dem Fußboden ab. Dieser fühlt sich plötzlich sehr weich an. Die Hände des Jungen versinken in ihm wie in Treibsand.

„Eine Falle!“, wird dem Jungen sofort klar.

Der Boden ändert seine Beschaffenheit. Von den Holzdielen ist nichts mehr zu sehen, geschweige denn zu spüren. Stattdessen überzieht Boden und Wände eine fleischige, rosafarbene Masse. Mit leichtem Pulsieren bewegt sich der handwarme Untergrund. Mit großer Mühe versucht Xenos seine Hände und Füße zu befreien, doch es gelingt ihm nicht. Er sinkt immer tiefer ein. Als er bereits mit den Knien in der Fleischmasse zu versinken beginnt, spürt er plötzlich an Händen und Füßen einen eigenartigen Schmerz. Es ist, als wenn er mit Nadeln gestochen wird. Als ob kleine Mäuler sich in seine Haut fressen. Panik steigt in dem Kind auf. Er sendet eine Druckwelle direkt unter sich in diese mysteriöse Masse. Mit gewaltiger Kraft wird er nach oben gegen die Zimmerdecke geschleudert. In der Fleischmasse ist ein runder Krater entstanden, der jedoch bereits wieder aufgefüllt wird. Als Xenos von der Decke wieder zu Boden fällt, schafft er es nur knapp, sich auf das Bett neben ihm zu retten. Dieses wankt gefährlich wie ein Schiff auf stürmischer See. Mit einem guten Sprung könnte er es zur Tür schaffen. Er zögert, versucht sich dann jedoch aufzustellen. Auf der weichen, wackelnden Matratze ist das alles andere als leicht. Bevor er wieder das Gleichgewicht verliert, setzt Xenos zum Sprung an und springt. Fleischige Wellen versuchen die Füße des Kindes aus der Luft zu reißen. Er schafft es jedoch bis über den Türsims. Sein Oberkörper landet außerhalb des Raumes. Seine Beine sinken jedoch wieder in die gefährliche Masse ein. Er spürt, wie das Fleischmonster an ihm zerrt. Mit aller Kraft hält er dagegen, drückt sich vom Türrahmen fort. Schließlich schafft er es sich loszureißen. Erschöpft liegt er auf dem staubigen Boden des Flures.

Entkräftet dreht er sich, auf den sicheren Holzdielen liegend, auf den Rücken. Er hebt seine Hände. Sie sind wie wundgescheuert und voller Kratzer. Der Junge streicht sich über die schmerzenden Beine. Auch diese sind übersät mit unzähligen kleinen, blutigen Kratzern und Bissspuren. In dieser Fleischmasse scheint wirklich etwas Gefährlicheres zu sein. Er wäre wohl kaum nur erstickt als vielmehr von irgendetwas langsam aufgefressen worden. Er breitet seine Arme aus, schaut hinauf zur Decke und atmet einen Moment durch. Doch plötzlich vernimmt der Junge deutlich einen lauten Schrei …


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 01.12.2016
Zuletzt bearbeitet: 23.06.2023
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