Auch wenn die Spur zu Ayame wieder verloren ist, so weiß Xenos immerhin, dass seine Schwester nicht an dem ihm gezeigten Tage umkam. Irgendwann werden sie sich wiedersehen. Für Xenos gibt es dennoch keine Zeit zum Rasten. Es gibt noch Spuren zu anderen Dingen, welche noch nicht verloren sind. Diesen will der Junge als nächstes nachgehen. So verschlägt Xenos die Suche nach dem Dämonenschwert nach Dun, einem kleinen, alten Ort im tiefen und dichten Wald des Radonum-Forstes, der Heimat der Dunkelelfen. Ein wenig abseits der schönen Stadt, versteckt im tiefsten Dickicht des finsteren Waldes, welcher die Stadt umgibt, soll, laut alten Karten, das Anwesen der alten Nekromantenfamilie Rhyl liegen. Dort erhofft er sich neue Informationen über das mächtige dämonische Artefakt. In der Stadt selbst wird Xenos von den Einwohnern misstrauisch beäugt. Dunkelelfen stehen Fremden immer sehr argwöhnisch gegenüber. Aber auch unter den eigenen Landsleuten ist Vertrauen ein seltenes Gut.
Trotz der unangenehmen Stimmung entschließt sich Xenos in ein Gasthaus zu gehen. Nicht nur um seinen großen Hunger zu stillen, sondern auch um sich ein wenig umzuhören. Dass die Dunkelelfen trotz ihrer Unfreundlichkeit gegenüber Gästen Tavernen und Unterkünfte betreiben, ist zwar ein wenig paradox, kommt den seltenen Reisenden aber sehr gelegen.
Nach einer kleinen Mahlzeit beschließt Xenos, den Wirt um Informationen zu seinem Ziel zu bitten und begibt sich zum Tresen. „Vielen Dank für das Essen“, verbeugt er sich vor ihm: „Ich habe noch eine kurze Frage, falls Ihr erlaubt. Könnt Ihr mir sagen, wo ich das Anwesen der Rhyl finde, welches in der Nähe liegen soll?“ Der Dunkelelf wirft ihm einen ungläubigen Blick zu: „Was willst du an so einem Ort? Ich glaube nicht, dass das was für dich ist. Such‘ dir einen anderen Platz zum spielen.“ „Ich will dort nicht spielen. Ich suche nach wichtigen Informationen, die die Rhyl vor ihrem Ableben hinterlassen haben könnten. Es ist sehr wichtig, da es für die Rückeroberung der gefallenen Kaiserstadt eine große Rolle spielen könnte.“ Der Dunkelelf beginnt herzhaft zu lachen: „Natürlich. Das Kaiserreich schickt ein kleines Kind, welches helfen soll, die Kaiserstadt zurückzuerobern. Die haben wohl niemanden mehr? Aber hey, wenn es dir, dem kleinen schwächlichen Jungen, hilft die ach so unbezwingbare Kaiserstadt zurückzuerobern, geh nur. Das Haus liegt westlich der Stadt. Mir käme es nur gelegen, wenn ihr eure Stadt zurück hättet. Dann könnte ich endlich meine Tochter wiedersehen. Schließlich kann sie dann die Grenzgarnison wieder verlassen, sobald all diese Flüchtlinge weg sind.“ Xenos winkt ab: „Was auch immer. Aber lasst mich Euch zum Dank noch etwas sagen. Euch würden die kaiserlichen Flüchtlinge eher von Vorteil sein. Immerhin lebt Ihr von den Leuten, die Euer Volk an den Grenzen aussperrt.“ „Hmm. Da könntest du recht haben …“, überlegt sich der Wirt, als die Tür bereits in die Angeln fällt.
Etwas außerhalb der Stadt wird Xenos nach einer Weile fündig. Das Anwesen der Rhyl. Versteckt hinter einer zugewucherten Wegabzweigung liegt das alte vermoderte Gemäuer. Vorsichtig und mit einem unguten Gefühl beschreitet Xenos den verwitterten Weg und gelangt schließlich auf das Grundstück des Anwesens. Orte, an denen Magier lebten, sind oft mit zahlreichen Abwehrmechanismen, wie magischen Fallen oder Flüchen, belegt. So sollen Eindringlinge ferngehalten werden. Diese suchen nämlich oft nach den noch im Inneren vorborgenen Schätzen, um sie an sich zu reißen. Besonders gefährlich sind hierbei die alten Häuser der Totenmagier, der Nekromanten. In den Nekromantenverfolgungen erhöhten sie den Schutz ihrer Anwesen, welcher zuvor schon berüchtigt war. Niemand traut sich heutzutage auch nur ansatzweise in die Nähe solcher Orte. Dies ist auch der Grund, warum die früheren Anwesen einfach verfallen und viel Wissen über Totenmagie seither verloren gegangen ist. Nekromantenclans waren sehr geschlossene Gemeinschaften und ließen Fremde nie einen Einblick gewinnen. Vermutlich war das auch einer der Gründe für die allgemeine Angst der Bevölkerung vor den Totenmagiern und ihre spätere Auslöschung.
Ohne Zwischenfälle kommt Xenos bis an die morsche Eingangstür. Vorsichtig drückt er die dennoch schwere Tür auf. Unter lautem hallendem Quietschen tut sich vor ihm die tiefe Schwärze eines lichtleeren Raumes auf. Bevor er das unbekannte Gebäude betritt, zieht er einen dicken Ast in den Türrahmen. Anschließend holt er seine leuchtende Kugel aus der Tasche, welche er von Guren in Erah erhalten hat. Mit leisen Schritten betritt er den Raum, welcher sich langsam erhellt. Es ist eine große, zweietagige Eingangshalle. Ein dreckiger, alter Teppich führt durch den Raum bis zu einer massiven Treppe, die links und rechts nach oben führt. Als Xenos weiter in die Halle hineingeht, die trotz der leisen Schritte jeden Schritt deutlich hörbar hallen lässt, beginnt die Eingangstür plötzlich wieder zu quietschen. Blitzschnell dreht sich der Junge um und sieht die massive Doppeltür nur noch zuschlagen. Jedoch nur auf einer Seite. Die andere Hälfte stoppt an dem Ast, welchen Xenos ihr in den Weg gelegt hat. Xenos lächelt spöttisch: „Wer hätte mit so etwas Simplem nicht gerechnet?“
Vorsichtig tastet er sich Schritt für Schritt durch das Erdgeschoss, immer bereit auf weitere Fallen zu reagieren. Doch hier ist nichts. Gar nichts. Einen Moment zweifelt Xenos, ob er in diesem Haus überhaupt richtig ist. Als er den hohen, prunkvollen Speisesaal betritt, wird er sich jedoch bewusst, dass dies das richtige Anwesen ist. Die lange Tafel ist gedeckt und der gesamte Raum ist staubfrei. Plötzlich entflammt die Beleuchtung an den Wänden. Die Seitentüren springen auf und abgedeckte Silberplatten schweben von beiden Seiten zum Tisch, als würden sie von unsichtbaren Dienern getragen. Es ist jedoch niemand hier. „Ein magischer Automatismus zum Servieren von Essen? Scheinbar ist das ein Überbleibsel der magischen Mechanismen, die den Hausherren das Leben hier vereinfachen sollten. Dass dieser jedoch bis heute aktiv ist, ist wirklich erstaunlich. Aber dieser Raum gibt einen tollen Einblick, wie es hier früher im ganzen Haus ausgesehen haben muss.“ Xenos geht zur reichlich gedeckten Tafel. Er hebt eine der Abdeckungen von den Platten an, als ihm bereits ein abscheulicher, widerlicher Geruch entgegenströmt. Das Essen auf der Platte ist bereits verdorben und zersetzt. Lediglich eine breiige, nach Verwesung stinkende Masse ist übrig. Was dies einmal war, lässt sich nicht mehr bestimmen.
In diesem Moment duckt sich Xenos rasch unter den Tisch, als bereits ein riesiges Fleischerbeil die Tafel an Xenos‘ Stelle tief einkerbt. „Also ist das hier doch eine Falle“, denkt sich Xenos, während er schnell unter der Tafel hindurch auf die andere Seite krabbelt. Als er wieder hervorkommt, blickt er seinem Gegner direkt in die Augen – die Augenhöhlen eines angsteinflößenden Skelettes. Es hat nichts weiter bei sich als dieses scharfe Beil und eine alte, doch recht saubere Kochmütze. Das Skelett klappert dem Jungen mit seinem Gebiss bedrohlich zu und zieht das Fleischerbeil wieder aus der Tafel. Mit einem Satz springt es auf den Tisch, dass das Geschirr beginnt zu klirren, und springt direkt auf Xenos zu. Mit einer Rolle zur Seite schafft es Xenos dem Monster auszuweichen. „Concursores fluctus“, ruft Xenos dem Skelett zu, welches von einer Druckwelle erfasst und in einzelnen Knochenteilen an die Wand gefegt wird, bevor die Knochen sich zu einem Haufen auf dem Boden sammeln. Kurz atmet Xenos erleichtert durch, als der Haufen plötzlich beginnt zu knacken. Langsam setzen sich die Knochen von selbst wieder zusammen, bis das Skelett unversehrt aufersteht. Es richtet mit dem Beil seine Kochmütze, bevor es mit diesem wieder auf den Jungen zustürmt. Schnell dreht Xenos sich um und rennt durch eine der Seitentüren. Er steht in der Küche. Mit einem Stuhl blockiert er die Tür und schaut sich kurz um. Es gibt einen zweiten Ausgang. Leise schleicht sich Xenos aus diesem zurück in den Flur, aus dem er kam, hin zur Vordertür in den Speisesaal. Ruckartig zieht er die Tür zu und verschließt sie. Schon einen Moment später poltert es aus dem Inneren heftig gegen sie. Staub von den Wänden rieselt zu Boden. Xenos beschließt, in der oberen Etage weiter nach Hinweisen auf das Dämonenschwert zu suchen.
Nachdem er oben angekommen ist, landet er zuerst in den Schlafgemächern. Die Betten und Wände sind sehr feucht. Der Boden scheint morsch und gibt leicht nach. In diesen Räumen scheint die Luftfeuchtigkeit übermäßig hoch zu sein. Xenos schaut sich im Zimmer um. Viel Brauchbares für seine Suche ist hier jedoch nicht zu finden. Lediglich ein Buch sieht interessant aus. Dämonologie Band 2. Es hilft ihm zwar nicht weiter auf der Suche nach Hinweisen zum Dämonenschwert, aber dennoch nimmt er es mit. Band 1 ist recht oft zu finden, aber der zweite Teil dieser Wissenssammlung ist mittlerweile ein wirklich seltenes Buch. Bei Gelegenheit wird er es lesen. Gerade als er es in seiner Tasche verstaut, gibt der Boden unter ihm nach. Er kann sich nicht mehr halten und fällt nach vorn. Mit seinen Händen fängt er sich auf dem Fußboden ab. Dieser fühlt sich plötzlich sehr weich an und Xenos‘ Hände versinken in ihm wie in Treibsand. „Eine Falle!“ Der Boden ändert seine Beschaffenheit und wird zu einer Art sich bewegenden rosanen fleischigen Masse, die der ursprüngliche Untergrund dieses Raumes zu sein scheint. Mit Mühe versucht Xenos seine Hände zu befreien, doch es gelingt ihm nicht. Er sinkt mit Händen und Füßen immer tiefer ein. Als er bereits mit den Knien in der Fleischmasse zu versinken beginnt, spürt er plötzlich an Händen und Füßen einen eigenartigen Schmerz. Es ist, als wenn er mit Nadeln gestochen wird und doch auch als ob kleine Mäuler von ihm abbeißen wollten. Xenos schreit auf und sendet eine Druckwelle direkt unter ihm in diese mysteriöse Masse: „Concursores fluctus!“ Es drückt ihn mit gewaltiger Kraft nach oben und lässt den Jungen gegen die Zimmerdecke fliegen. In der Fleischmasse ist ein runder Krater entstanden, der jedoch bereits wieder aufgefüllt wird. Xenos konnte sich auf eines der Betten retten, die auf der Massen gefährlich wanken. Mit einem guten Sprung könnte er es rüber zur Tür schaffen. Er versucht sich aufzustellen, was auf der weichen, wackelnden Matratze aber alles andere als leicht ist. Schließlich setzt er zum Sprung an und springt. Er schafft es, mit seinem Oberkörper außerhalb des Raumes zu landen, doch seine Beine sinken wieder in die gefährliche Masse ein. Mit aller Kraft versucht er sich aus dem Raum zu ziehen und schafft es letztendlich auch.
Entkräftet dreht er sich, auf den sicheren Holzdielen liegend, auf den Rücken. Er hebt seine Hände. Sie sind wie wundgescheuert und voller Kratzer. Der Junge blickt an sich hinunter. Seine Schuhe und Beine sind ebenfalls zerkratzt und aufgerissen. „In dieser Fleischmasse scheint wirklich etwas Gefährlicheres zu sein. Ich wäre wohl nicht einfach erstickt, sondern von irgendetwas langsam gefressen worden.“ Er breitet seine Arme aus, schaut hinauf zur Decke und atmet einen Moment durch. Doch plötzlich vernimmt der Junge deutlich einen lauten Schrei …
Geschrieben von: | Mika |
Idee von: | Mika |
Korrekturgelesen von: | May |
Veröffentlicht am: | 01.12.2016 |
Zuletzt bearbeitet: | 02.05.2017 |