Kapitel 4 – Gefüge der Mythologie

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Den Rest der Nacht verbringen Xenos und Nekomaru auf dem Zimmer eines einfachen Gasthauses in Volar. Es war schwer, eine Unterkunft zu finden, die nicht komplett ausgebucht war.

Am Morgen machen sie sich zum Aufbruch bereit und kehren auf die Straßen zurück. Es herrscht wilder Trubel durch die ganze Stadt hinweg. Alle scheinen aufgeregt, amüsiert und freudig. Als sie auf die Hauptstraße kommen, beginnt Xenos zu verstehen, warum alle solch gute Laune verströmen. Durch die breite Straße zieht ein Festzug mit vielen bunten, reich geschmückten Wagen. Ulkige Gestalten stelzen neben ihnen her, auf den Dächern und vor den Kutschen sitzen verkleidete Leute in ausgefallenen Kostümen, die man in einem Zirkus nicht erwartet hätte. Die Darsteller bieten ein realistisches Abbild von düsteren Sagenwesen bis hin zu dämonischen Geschöpfen. In einigen Wagen ziehen skurrile Kreaturen, von der Menge durch Gitterstäbe getrennt, an ihnen vorbei. Süße Leckereien und Flugblätter werden in die Menge geworfen und man lädt ein zur abendlichen Vorstellung des Zirkus Belial – „Einer magischen und außergewöhnlichen Vorstellung, wie es sie noch nie gegeben hat!“

Nekomaru, der nicht lesen kann und ebenso wenig versteht, was ein Zirkus ist, ist aufgrund des bunten, überwältigenden Auftrittes bereits mehr als angetan von dem, was er sieht. Er reagiert genauso wie all die anderen aufgeregten, begeisterten Bewohner. Zwischen seiner Reaktion und der der anderen Kinder der Stadt ist kaum ein Unterschied auszumachen.

„Was sind das für Leute?“, will Nekomaru wissen.

„Das ist ein Zirkus“, erklärt Xenos, der ebenfalls begeistert ist, diese jedoch versucht zurückzuhalten. „Das sind Leute, die mit ihren Kunststücken und Choreografien durch das Land reisen. Sie machen in Städten halt und geben große Vorführungen, die man besuchen kann.“

„Gehen wir dahin?“

„Eigentlich sollten wir nicht mehr so viel Zeit vergeuden“, zögert der junge Xenos.

Nekomaru schaut ihn bittend an: „Komm schon. Ich habe noch nie einen Zirkus gesehen.“

„Na schön“, knickt Xenos ein und freut sich ebenfalls, „dann lass uns zumindest den Tag ein wenig nutzen. Bis zur Vorstellung heute Abend haben wir noch etwas Zeit.“

Die beiden Kinder machen sich auf den Weg in die Bibliothek der Stadt. Es ist ein kleines, übersichtliches Haus, nicht zu vergleichen mit der Bibliothek und deren Archiv in der Kaiserstadt. Aus den Regalen sucht sich Xenos einige Bücher heraus und begibt sich mit ihnen an einen der Tische.

„Wir wollen uns den ganzen Tag mit Büchern beschäftigen?“, fragt Nekomaru enttäuscht, „Du weiß, dass ich das nicht lesen kann.“

„Ich will mehr über Nidhörun herausfinden. Da wir nicht in die Kaiserstadt kommen, um die Impakt-Verstecke abermals herauszuarbeiten, möchte ich mich zumindest über den Dämonenfürsten belesen, dem der Kult dient.“

„Das wird echt langweilig“, seufzt Nekomaru.

Daraufhin legt ihm Xenos ein buntes Buch vor die Nase: „Du kannst die Zeit nutzen und lesen lernen. Das ist ein Buch für Schüler, das ihnen die Buchstaben erklärt.“

Nekomaru blättert die ersten Seiten eher desinteressiert durch. Die Bedeutung jedes Buchstabens wird mit vielen bunten Bildern gut erläutert.

„Muss ich das wirklich machen? Ich kann doch bereits eine Schrift lesen.“

„Die Runenschrift des Totenreiches zählt nicht.“

Damit lässt Xenos Nekomaru allein und vertieft sich in seine Bücher. Trotzig lehnt sich Nekomaru zurück und wartet auf die Aufmerksamkeit von Xenos. Nach kurzer Zeit beginnt er sich zu langweilen. Er nimmt sein Buch in die Hand und blättert nach wie vor desinteressiert durch die einzelnen Seiten, bis er sich schließlich darin verliert und beginnt, sich neugierig die einzelnen Schriftzeichen aus den Bildern herzuleiten.

Xenos findet unterdessen nur wenige neue Informationen. Das meiste Wissen aus den Texten gehört zum Allgemeinwissen Atra-Regnums oder er hat es sich bereits angelesen.

Bei den Lebenden gibt es hauptsächlich sechzehn große Dämonenfürsten und zwölf Gottheiten, die in ganz Atra-Regnum bekannt sind und angebetet werden. Hinzu kommen weitere Gottheiten und Dämonen, die jedoch nur von bestimmten Völkern oder in bestimmten Regionen verehrt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist Vasil, der Gott des Sandes und der Wüste, der oft als Schlangenwesen dargestellt wird. Für die Sudame, die Wüstenvölker Atra-Regnums, wäre er die dreizehnte Gottheit. Bei ihnen ist er sogar der wichtigste, am weitesten verbreitete Gott.

Sowohl die Götter als auch die Dämonen stammen vom schlafenden Riesen ab. Er ist der Dämonenkönig und zählt nicht zu den sechzehn Fürsten. Sein Name darf nicht ausgesprochen werden. Seit der Geburt seines letzten Nachfahren, welcher der Dämonenfürst der Nebel und des Vergessens sein soll, schläft er ununterbrochen. Sein Erwachen soll das Ende der Welt bedeuten. Es ist eine von vielen Möglichkeiten, wie die Welt eines Tages untergehen könnte. Seine Erstgeborenen sind die Dämonenfürsten des Raumes und der Zeit. Sie gelten heute als oberste Fürsten des Reiches der Toten.

Am Anfang gab es keine Unterscheidung zwischen Dämonenfürsten und Göttern. Erst im Laufe der Zeit, lange nachdem der König der Dämonen sich zur Ruhe legte, kam es zu einem gewaltigen Streit, der dazu führte, dass sich die Götter von den Dämonenfürsten lösten. Es kam zum Krieg zwischen den beiden Fraktionen. Dieser war so heftig und zerstörerisch, dass ihre alte Heimat ausgelöscht wurde und die Welt von Atra-Regnum entstand. Die Götter und Dämonenfürsten kamen zu einem Kompromiss. Die Dämonenfürsten beanspruchten das Reich der Toten als ihre Heimat, eine Welt, die am ehesten der ihres alten Zuhauses entsprach. Die Götter zogen in den Äther, weit weg vom Reich der Toten und ihren ungeliebten Geschwistern. Zwischen den beiden Welten liegt Atra-Regnum.

Doch die Distanz stellte sich als nicht ausreichend heraus. Die beiden Parteien beeinflussen die Welt zwischen sich. Durch diese sind sie verbunden. Die Welt hält vieles aus und hat im Machtkampf der beiden Fraktionen schon viel durchgemacht und noch viel mehr ausgehalten. Wenn sie jedoch nicht aufpassen, zerstören sie diese Welt und mit ihr ihre eigenen. Denn alle Welten können nur gemeinsam existieren.

Jeder Dämonenfürst und jeder Gott hat ein bestimmtes Gebiet, auf welches er Einfluss hat. Wohingegen die Dämonenfürsten eher physischen Einfluss auf verschiedene Elemente ausüben, haben die meisten Götter verschiedene Attribute, die sie beeinflussen. So liegt die Macht über Erde, Feuer und Wasser aber auch Licht und Schatten oder Blut und Fleisch bei den Dämonenfürsten im Reich der Toten. Die Götter kontrollieren jedoch Mut, Weisheit, Stärke oder Glück. Aber auch Krieg und die Natur sind bestimmten Gottheiten zugeordnet.

Obwohl man es vermuten könnte, sind Götter und Dämonenfürsten nicht per se gut und böse, auch wenn die Götter oftmals für sich beanspruchen die Guten zu sein. So werden sowohl Götter als auch Dämonenfürsten angebetet. Viele Bauern beten zu Viridi, der Göttin der Natur, und bitten um eine reiche Ernte oder gutes Wetter. Fischer hingegen sprechen zu Peleori, der Dämonenfürstin des Wassers, um um einen guten Fang und sichere Heimfahrt zu bitten. Andererseits gab es in der Geschichte auch einen Kult der Peleori, der dafür betete, dass sie eines Tages das Land verschluckt und Atra-Regnum so zu einem einzigen Ozean werden lässt. Ebenso gab es Glaubensgemeinschaften, die die Reiche untereinander schlechtredeten um Krieg zu verursachen. Durch ausgelöste Kriege wollten sie ihren Gott, den Gott des Krieges, huldigen. Am Ende kommt es also immer darauf an, was die Intention der Lebenden ist und wie sie selbst ihren Patron sehen und verstehen wollen.

Nidhörun hat eine besondere Geschichte. Diese ist vor allem bei den Negoniern aus den Winterwaldfjorden bekannt. Im Krieg, der Atra-Regnum schuf, stand er auf der Seite der Götter. So war es auch, dass er ein Gott war, der einst im Aether lebte. Doch durch seine zwielichtige, unberechenbare Natur, seinen Hang zur Täuschung, zum Lügen und zum Scherz zog er den Unmut der anderen Götter auf sich. Sie verbannten ihn. Er schwor Rache und lebte fortan als Dämonenfürst im Reich der Toten. Sein Ziel ist es, die Götter in einem zweiten großen Krieg zu vernichten. Und das, obwohl ihm bewusst ist, dass ein zweiter Krieg sie alle für immer auslöschen würde.

Anders verhielt es sich mit Vasil, dem Gott der Wüste und des Sandes. Er war lange Zeit ein Dämonenfürst. Doch es kam, dass die Götter ihn in ihre Reihen aufnahmen. Vasil willigte ein. Man sagt, dass die Götter auch in den unwirklichen Wüsten der Welt ein Auge haben wollten, in die sich das Leben einst zog.

Xenos liest auch in seinen eigenen Büchern, die er bisher auf seinen Reisen gefunden hat. Im Dämonarium lässt er sich vom Thema ablenken. In diesem Buch sind nahezu alle bisher bekannten Dämonen und Kreaturen des Totenreiches mit all ihren Unterarten aufgelistet. Hier wird unter anderem ihr Aussehen beschrieben, ihre Herkunft, Entwicklung und Entstehung, ihre speziellen Fähigkeiten und welchem Dämonenfürsten sie zuzuordnen sind.

Alle Bewohner des Totenreiches stehen unter der Führung eines bestimmten Dämonenfürsten. Meist gehört die gesamte Art einer Kreatur zu einem Fürsten. Es gibt aber auch einzelne Individuen einer Art, die anderen Fürsten unterstellt sind. Meistens sind sie übergelaufen oder an den jeweiligen Fürsten verkauft worden. Die Hierarchie im Reich der Toten ist sehr streng.

Beiläufig wird erwähnt, dass die Wesen des Aether auch bestimmten Göttern unterstellt sind, sich dies oft aber nicht so ausgeprägt darstellt wie im Reich der Toten.

Jedes Lebewesen, was stirbt, kehrt ins Reich der Toten ein. Dabei kommt es nicht darauf an, ob man als Lebender frevelhaft oder tugendhaft war. Als Geist wandelt das ehemalige Leben umher. Bereits jetzt untersteht es einem Dämonenfürsten, dem Fürsten des Todes. Jede ankommende verstorbene Seele gehört zunächst ihm. Manchmal wird er auch als Wächter der Pforte beschrieben, der die Geister beim Eintritt ins Reich der Toten in Empfang nimmt. Im Gegensatz zu vielen anderen Fürsten strebt er jedoch nicht nach der Kontrolle aller seiner Untergebenen oder deren Unterwürfigkeit. Durch den ständigen Nachschub an neuen Verstorbenen ist es ihm kaum möglich für alle zu sorgen. Jeder Verstorbene, der sich ihm jedoch willentlich unterwirft, ist ein gern gesehener Diener des Fürsten.

Viele jedoch können oder wollen dies nicht. In der Zeit kurz nach dem Tod, der ersten Zeit im Reich der Toten, zeigt sich, wie stark die Seele des Verstorbenen ist. Nur die mit dem gefestigsten Geist können dem Wahnsinn widerstehen, dem sie im Reich der Toten ausgesetzt sind. Die meisten verlieren sich und ihr früheres Ich und werden verrückt. Sie werden zu bösen Geistern, wie zum Beispiel Rachegeistern oder zu Verlorenen. Diese Seelen werden von den anderen Fürsten versklavt und in ihre Dienste gestellt. Seelen, aus denen sie noch einen Mehrwert ziehen können, bekommen neue Hüllen. Sie werden zu Dämonen oder zu einfachen Untoten, die in den Reihen ihrer Armeen stehen.

So stehen im Dämonarium hunderte verschiedener Untoter, Geister, Dämonen und anderer Kreaturen.

Die meisten Arten von Untoten werden in diesem Buch dem Dämonenfürsten des Fleisches zugeordnet. Untote und Geister gibt es jedoch im Gefolge jedes Fürsten. Dem Dämonenfürst der Nebel und des Vergessens hingegen unterstehen ettliche Geisterarten. Einen Großteil seines Reiches machen die Vergessenen aus, die schwächsten Seelen, die nirgendwo anders Zuflucht gefunden haben. Sie sind auf ewig verdammt dort zu verweilen. Niemand wird je nach ihnen suchen oder sich für sie interessieren.

Für die Seelen verstorbener Tiere hat das Reich der Toten auch einen Platz. So zählen zu den sechzehn Hauptdämonenfürsten auch der Dämonenfürst der Hunde und die Dämonenfürstin der Katzen. Zu den Kreaturen, die der Dämonenfürstin der Katzen zugeordnet werden, zählen beispielsweise Nekomanta, zweischwänzige Katzengeister.

Sangra, die Dämonenfürstin des Blutes, befehligt viele verschiedene Dämonenarten, die mit Blut arbeiten, wie Blutunholde, denen Xenos und Nekomaru gestern auf der Ostbrücke zur Kaiserstadt begegneten. Aber auch Vampire stehen unter dem Zeichen Sangras.

Nidhörun, dem Fürsten des Wahnsinns und der Lügen, werden verschiedene Rachegeister oder besonders manipulative Dämonenarten, wie Succubi und Inkubi, zugeordnet. Diese Dämonen tarnen sich als Lebende, um diese zu verführen. Nidhöruns Anhänger sollen sehr aktiv in Atra-Regnum sein. Sie lieben es, ihre gefährlichen Spielchen mit den Einwohnern dieser Welt zu treiben.

Die lauten Glocken der Stadt, die den Abend einläuten, lassen Xenos wieder aus seinen Gedanken erwachen, die er beim studieren seiner Bücher webt. Er schaut auf, hinüber zu Nekomaru. Dieser liegt schlafend mit dem Gesicht im aufgeschlagenen Buch. Der Nekromant tritt seinem Gegenüber unter dem Tisch vorsichtig gegen das Schienbein. Der blondhaarige Junge schreckt auf und schaut Xenos böse an.

„Ich bin fertig.“

„Das war der langweiligste Tag seit langem!“, beschwert sich Nekomaru, „Ich war schon mehrfach mit meinem Buch fertig und du hast immer noch gelesen.“

Xenos streckt sich amüsiert: „Dann hast du sicher viel gelernt. Dafür sollten wir heute noch etwas Spannenderes erleben. Lass uns zum Zirkus gehen!“

Nekomarus schmollendes Gesicht weicht einem Grinsen: „Worauf warten wir?“


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 01.08.2018
Zuletzt bearbeitet: 04.09.2019
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