Kapitel 4 – Inquisition

[yasr_visitor_votes size='medium']

Das Reisesigill auf dem Marktplatz von Moraquell im Blutquelltal leuchtet auf. Schon erscheinen Xenos und Nekomaru auf dem gepflasterten Platz, der genau an der Mündung des Falkenbaches in die Mora liegt. Das geschäftige Leben auf den Straßen beginnt zu stocken. Die Leute erkennen Xenos. Das im Blutquelltal bekannte traditionelle schwarze Gewand mit dem weißen Saum der Nebraa-Nekromanten verrät ihn. Außerdem hängen noch immer Flugblätter von ihm in den Straßen. Der Junge hat sich bewusst dazu entschieden nicht getarnt zurückzukehren.

Es ist totenstill. Man spürt Angst und Anspannung in der Luft liegen. Direkt vom Sigill kann man den aufgeschichteten Scheiterhaufen in der Mitte des Marktes sehen. Der kleine Geisterjunge Yuki hatte ihnen erzählt, dass hier in wenigen Stunden die drei gefangen genommenen Wiedererweckten hingerichtet werden sollen. Ein klares Exempel, welches die Inqusition, die sich in den vergangenen Wochen im Blutquelltal eingenistet hat, hier statuieren will. Die Gelegenheit war günstig, ist doch bekannt, dass der Nekromant von Falkenbach zur Verteidigung von Ramoras aufgebrochen ist. Eine offensichtlich hinterhältige Aktion, die man von den eigentlich aufrichtigen Dienern der Götter wohl nicht erwartet hätte.

Genauso wenig haben sie wohl erwartet, dass die Belagerung von Ramoras bereits beendet ist. Und so steht er nun vor ihnen, der Nekromant der Nekropole Falkenbach, Xenos Nebraa. Doch Furcht ist es nicht, die er bei den Bewohnern auslösen möchte. Keinesfalls will er zulassen, dass man ihn als den Aggressor darstellen kann. Doch genauso wenig kann er es zulassen, als schwach und passiv angesehen zu werden. Bedroht man ihn und seine Stadt, muss er bestimmt auftreten, um zu schützen, was ihm wichtig ist. Der Junge verlässt das Reisesigill und tritt auf den Platz.

Sofort brüllt man ihm entgegen: „Im Namen von Inquisitor Clavius Meres. Ihr seid verhaftet.“

Aus den Straßen stürmen mehrere Trupps der Stadtwachen auf den Marktplatz. Ihre Hellebarden und Piken deuten in Richtung des Jungen. Doch zwischen ihnen und Xenos verbleibt ein großer Abstand. Keiner scheint sich näher an ihn heranzutrauen.

Nekomaru bleibt ruhig an Xenos‘ Seite. Er grinst hämisch. Gern würde er auch in Kampfhaltung gehen. Sein Freund hatte ihm aber bereits in Ramoras eingebläut, dass aggressives Verhalten kontraproduktiv für ihr Ziel ist.

Xenos ruft den sie umzingelnden Wachen entgegen: „Clavius Meres. Vor wenigen Tagen unterstandet Ihr noch dem Präfekten der Region. Regiert jetzt der Inquisitor das Tal?“

Seine Frage wird ignoriert: „Legt Eure Waffen nieder und ergebt Euch!“

Beide Kinder heben die Hände und zucken mit den Schultern: „Welche Waffen?“

Xenos spricht weiter: „Ich bin hier, um über die Freilassung der entführten Einwohner der Nekropole Falkenbach zu verhandeln.“

Die Trupps beginnen sich zu beraten. Schließlich läuft eine der Stadtwachen davon. Es dauert eine Weile, bis sie zurückkommt und der Junge eine Antwort erhält.

„Der Inquisitor Clavius Meres empfängt Euch. Versucht uns nicht zu täuschen.“

Xenos und Nekomaru folgen den Stadtwachen aufmerksam. Sie führen die Kinder zur Kirche des großen Pantheons von Moraquell. Das Gebäude wird geschützt von mehreren stark bewaffneten Männern, die das Zeichen der Inqisition auf ihrer Uniform tragen. Mit Sicherheit sind es einige der Soldaten, die zum direkten Gefolge des Inquisitors gehören. Klar ist nun auch, dass Inquisitor Clavius beabsichtigt, die beiden innerhalb der heiligen Mauern zu treffen.

Den Kindern missfällt der Gedanke daran. Für beide ist die Anwesenheit an einem gesegneten Ort schmerzhaft unangenehm. Sie sind beide Dämonenkinder, Kinder dieser Welt, jedoch mit der besonderen Gabe eines Dämonenfürsten. Dies reicht jedoch schon, um sie die heilige Energie eindringlich spüren zu lassen, die andere Dämonen daran hindert, solche Gebiete zu betreten. Hinzu kommt, dass auch Xenos‘ Nekromantie auf heiligem Boden nicht vollumfänglich einsetzbar ist. Sie beschließen, dass Xenos dem Inquisitor allein gegenübertritt. Nekomaru wartet vor dem Haus der Götter. Wenn einer von ihnen Probleme bekommt, können sie sich so gegenseitig am besten helfen.

Die schwere Tür hinein in das kühle Kirchenschiff öffnet sich und Xenos tritt ein. Hinter ihm werden die Pforten wieder verschlossen. Der Junge schaut sich in dem imposanten Gebäude um, dessen Decke von mehreren verzierten Säulen getragen wird. Jede von ihnen bildet eine andere Gottheit ab. Der Junge beginnt den unangenehmen Druck auf der Brust zu spüren, den das gesegnete Gebäude verursacht. Das Atmen fällt ihm schwerer.

Durch die bunten Fenster fällt fahles Licht in die hohe Halle. Seine Augen gewöhnen sich langsam an den Unterschied und er erkennt die Gestalten am anderen Ende des Raumes. Vor dem Hauptaltar stützt sich ein grauhaariger Mann in reinweißer Kutte, welche goldbestickt das Zeichen der Inquisition trägt, auf einen heiligen Stab. Seine goldenen Augen schauen in die des Jungen und vermitteln ihm ein unangenehmes Gefühl. Sein kantiges Gesicht wirft tiefe Falten. Der gekrümmt stehende Mann wirkt kränklich. Neben ihm stehen zwei Soldaten in Kettenhemden. Ihr Wappenrock zeigt ebenfalls das Zeichen der Inqisition. Sie verharren entschlossen, leicht abgestützt auf die vor sich abgesetzten Schwerter.

„Der Nekromant von Falkenbach“, krächzt der alte Inquisitor Clavius und beginnt zu husten.

Xenos atmet tief ein: „Ich möchte keinen Streit. Ich bin lediglich hier, um die Freilassung meiner Untergebenen zu fordern.“

„Du forderst die Freilassung deiner geknechteten Sklaven.“

„Sie sind nicht meine Sklaven“, schüttelt der Junge den Kopf. „Sie besitzen einen freien Willen, sind froh, dass ich sie erweckt habe.“

„Lüge!“, schreit der Inquisitor heiser. „Ihr Verstand ist vernebelt. Sie sind sich nicht im Klaren, dass sie gefangen gehalten werden.“

„Habt Ihr sie befragt? Dann hättet Ihr das Gegenteil festgestellt.“

„Deine vergangenen Taten waren bereits genug, um mir dein böses Selbst zu demonstrieren.“ Er schüttelt enttäuscht den Kopf. „Es ist eine Schande, dass ein so junges Geschöpf bereits von den Mächten des Bösen korrumpiert wurde. Du hättest eine großartige Zukunft haben können.“

„Ihr weicht meiner Frage aus“, weist Xenos hin.

„Sie sollen froh sein, erneut das Leben leben zu müssen? Unter der Herrschaft eines Kindes, das das Leben selbst noch nicht versteht? Gilt das auch für die zahllosen ehrbaren Verstorbenen, die du und deine kleine Freundin von den Friedhöfen und Krypten in andere Teile der Welt entführt haben? Sie alle haben ihre ewige Ruhe verdient, die ihr gestört habt!“

Xenos fasst sich an den Kopf und seufzt: „Das war falsch. Ihr habt recht. Ich war geblendet, stand unter dem Einfluss einer Vampirin. Sie hat mich dazu gebracht, die Gräber zu plündern.“
„Du siehst ein, dass deine Gabe frevelhaft ist. Das ist gut, mein Kind“, flüstert Clavius leise.

Der Junge schüttelt den Kopf: „Nein, Nekromantie ist nicht falsch. Das wollte ich nicht sagen. Sie kann wie jede andere Gabe für das Falsche genutzt werden. Der Bogen eines Jägers kann für die Jagd verwendet werden, aber ebenso gut für das Töten von Menschen. Deswegen verbietet man nicht die Nutzung von Bögen oder verurteilt gar alle Jäger.“

Der Inquisitor grummelt mürrisch: „Hättest du erlebt, was ich erlebt habe, würdest du das nicht vergleichen. Die Nekromantie ist eine Gabe der Dämonen. Sie korrumpiert die Seelen ihrer Anwender. Du bist nicht der erste Nekromant, mit dem ich es während meiner Laufbahn zu tun hatte. In allen von ihnen schlummerte das Böse und ich habe es offenbart. Seit über zweihundert Jahren verschreiben wir Inquisitoren uns dem Kampf gegen die Nekromantie. Als letzter Inquisitor Atra-Regnums habe ich mich der Aufgabe angenommen, diesen Kampf nun zum Ende zu bringen. Mein Name wird in die Geschichte eingehen!“

„Ihr seid nicht an Verhandlungen interessiert“, dämmert es dem Nekromanten.

Bedächtig nickt Inquisitor Clavius: „Niemand sollte sich den Mächten des Reiches der Toten bedienen. Und niemand sollte über den Tod hinaus in dieser Welt weilen. Meine heilige Pflicht ist es dafür zu sorgen, dass diese Grundsätze eingehalten werden. Das Leben ist ein Geschenk der Götter in dieser den Göttern zugewandten Welt.“

Plötzlich schwingt einer der Türflügel auf.

Aufgebracht und mit heller Stimme ruft Nekomaru in die hallende Kirche: „Sie haben die Wiedererweckten zum Marktplatz geführt!“

Wütend schnellt Xenos‘ Blick hinüber zu Clavius: „Ihr habt uns abgelenkt! Das war alles, worauf Ihr es abgesehen hattet.“

„Ihre Seelen werden nun befreit“, meint der alte Mann erleichtert.

Der Junge ballt seine Hände zu Fäusten. Nekomaru tritt in die Kirche ein. Ein vorfreudiges Grinsen zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Xenos hebt seine Faust und öffnet sie wieder. Er schaut in die von seinen gekrümmten Fingern umgebene Handfläche, bereit einen Zauber zu wirken. Die Soldaten an der Seite des Inquisitors heben ihre polierten Schwerter. Doch der Junge senkt seine Hand wieder.

Mit einem Blitzen in seinen Augen droht er: „Ihr provoziert einen Krieg. Doch unsere Welt hat größere Probleme als die von uns gemachten. Ich bin nicht der erste Nekromant, mit dem Ihr es zu tun habt. Doch wenn Ihr Euch noch ein Mal gegen mich oder Falkenbach erhebt, werde ich Euer Letzter sein!“

Mit diesen Worten stürmt der Junge aus dem Haus der Götter hinaus ins Freie. Die helle Sonne blendet ihn, doch er lässt sich nicht aufhalten. So schnell er kann sprintet er zurück zum Marktplatz. Nekomaru folgt ihm auf dem Fuß. Der Geruch von Feuer liegt bereits in der Luft.

Die Kinder erreichen den gepflasterten Platz. In der Mitte erhebt sich bereits das lodernde Feuer, welches von zahlreichen Schaulustigen umgeben ist. Sie kommen eindeutig zu spät.

Xenos beginnt sich durch die Menge zu drücken. Schnell wird er erkannt und die Leute beginnen ihm freiwillig Platz zu machen. Es bildet sich eine Gasse bis zum brennenden Scheiterhaufen. Die Konturen von drei reglosen Körpern sind durch die Flammen hindurch zu erkennen. In dem Jungen steigt erneut die Wut auf. Doch er beherrscht sich weiterhin. Nach außen vermittelt er Trauer.
Während er auf das Feuer zuschreitet, spricht er: „Tempestas.“

Eine Gewitterwolke bildet sich über dem Scheiterhaufen. Sturmartiger Regen beginnt niederzuregnen. Das Feuer zwischt und dampft. Die Flammen werden kleiner und erlöschen.

Vor den verkohlten Überresten setzt sich Xenos auf die Knie und spricht mit gesenkter Stimme: „Es tut mir leid. Ich bin zu spät. Euer zweites Leben war viel zu kurz. Ich werde euer Ableben im Dorf melden. Wir werden trauern. Eure Familien werden euch vermissen.“

Mit diesen Worten erhebt sich Xenos und verlässt langsam den Platz in Richtung Norden. Er würdigt er die Bewohner von Moraquell keines weiteren Blickes. Auch hier bildet sich eine breite Gasse. Die Menge schweigt. Als die beiden Jungen an den Stadtwachen vorüberziehen, verharren auch diese. Niemand hält sie auf.

Gemeinsam verlassen sie die Stadt und brechen auf in Richtung Nekropole Falkenbach. Sie reden kein Wort miteinander, bis die Waldgrenze des dichten Schwarzeichenwald, der zur Nekropole hinaufführt, erreicht ist.

Nekomaru verschränkt seine Arme hinter seinem Kopf und grinst: „Nicht schlecht, Xenos. Hast du das von mir gelernt? Deine Trauer und Anteilnahme wirkten sehr überzeugend.“

Xenos räuspert sich: „Ich nehme Anteil. Die Familien der Opfer verlieren zum zweiten Mal einen geliebten Menschen. Das wird schwer für sie sein.“

Nekomaru schaut ungläubig: „Du hast wirklich gefühlt, was du gemeint hast?“

„Ich habe gemeint, was ich gesagt habe“, stellt Xenos klar. „Es ist schwer mir einzugestehen, dass wir sie nicht retten konnten. Sie haben sich auf meinen Schutz verlassen und ich konnte sie nicht schützen.“

„Aber du kannst sie doch einfach erneut auferstehen lassen“, entgegnet der blondhaarige Junge.

„Richtig. Aber ich muss zuerst ihre Seelen wiederfinden“, antwortet der Nekromant resigniert. „Vielleicht halten sie sich noch in der Nähe auf. Ansonsten muss ich sie wie die anderen aus dem Reich der Toten beschwören. Das ist anstrengende Arbeit. Ich beherrsche das Ritual noch nicht perfekt. Zudem haben wir noch Dutzende von Anfragen von Bewohnern, die ihre Verstorbenen wieder bei sich haben möchten.“

„Außerdem musst du neue Körper für sie finden“, fügt Nekomaru an.

„Und die gefundenen Gefäße müssen der verstorbenen Seele und dessen Familien gefallen“, seufzt Xenos. „Das alles wissen aber die Bewohner von Moraquell nicht. Für sie wollte ich den Verlust etwas gefühlvoller ausdrücken. Vielleicht ändert das bei einigen die Sicht auf die Nekromantie. Sie erkennen, dass die Wiedererweckten ihnen nicht allzu unähnlich sind. Das würde ich mir zumindest wünschen.“

„Sehr ähnlich sind sie ihnen wiederum aber auch nicht“, fügt der blondhaarige Junge an. „Sie haben nur einen begrenzt freien Willen. Du könntest sie kontrollieren. Ihre Körper verwesen weiter als wären sie tot. Dabei nehmen ihre Fähigkeiten in fast allen Bereichen ab. Außerdem brauchen sie …“

„Es ist eben keine perfekte Wiederbelebung“, unterbricht ihn der Nekromant. „Einem Toten das Leben zurückzugeben, was er vor seinem Tod führte, ist nahezu unmöglich. Aber es geht um das Prinzip. Sie können ein annähernd gutes Leben führen, wozu sie sich freiwillig entschieden haben.“

„Ich weiß nicht, ob ich so leben wollen würde. Aber selbst wenn die Bewohner sich nicht gegen uns erheben, der Inquisitor bleibt die größte Bedrohung“, macht Nekomaru deutlich.

„Natürlich. Aber wenn die Bevölkerung ihm keine Rückendeckung gibt, wird er es schwieriger haben. Ich frage mich ohnehin noch immer, wie er es geschafft hat, den Präfekten des Blutquelltals zu überzeugen. Der Präfekt war auch gegen unseren Einzug in die Nekropole, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er in seiner Präfektur eine große Inquisition ausruft. Immerhin hat das weitreichende Folgen für alle Einwohner. Eine Inquisition bedeutet Überwachung und Einschränkung für alle. Der Verdacht, mit dem Feind, in dem Fall uns, zu kooperieren, wird schnell ausgesprochen. Das Misstrauen wächst und schädigt das Zusammenleben.“

„Am härtesten wird es dennoch uns treffen. Ich habe ein Gespräch zwischen den Inquisitionssoldaten mitbekommen. Scheinbar ist das Gefolge des Inquisitors bereits groß gewesen, als er im Tal eintraf. Es hörte sich an, als wäre er mit einer halben Armee unterwegs.“

Xenos nickt: „Ein Grund mehr die Verteidigungsbemühungen in der Nekropole zu verstärken. Die äußeren Stadtmauern sind so gut wie instand gesetzt. In den Krypten liegen noch genügend Gebeine und die Bürger sind bereit zu kämpfen. Letzteres würde ich natürlich vermeiden wollen, solange wir noch Untote und Wiedererweckte haben.“


Geschrieben von: Mika
Idee von: Mika
Korrekturgelesen von: May
Veröffentlicht am: 01.07.2020
Zuletzt bearbeitet: ———-
Teile, um uns zu unterstützen:

Hinterlasse einen Kommentar

Kommentare von Gästen werden immer erst geprüft. Melde dich an, um deine Kommentare sofort zu sehen.